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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sagte er, ohne das Tempo zu verringern.
    Sie legte eine Hand auf seinen Oberschenkel. »Es wäre schön, wenn du uns lebendig nach Thale bringen könntest.«
    Er nickte stumm und nahm den Fuß vom Gas. Die Leuchtmarkierungen der Leitpfosten huschten rechts und links an ihnen vorbei wie Glutaugen wilder Tiere. Die Nacht rückte näher.
    »Wie lange noch?«, fragte er.
    »Es ist nicht mehr weit. Noch ein paar Kilometer.«
    Er hatte lange überlegt, warum sie gerade die kleine Stadt im Nordharz als Treffpunkt ausgewählt hatten. Erst Nina war auf den richtigen Gedanken gekommen.
    »Morgen ist der 31. April«, hatte sie gesagt. »Walpurgisnacht. Das Fest der Hexen und Dämonen. Der ganze Harz ist dann auf den Beinen, und Tausende versammeln sich in Thale auf dem Hexentanzplatz. Der Legende nach erscheint dort der Satan, um mit seinen Anhängern Orgien zu feiern und ihre Menschenopfer entgegenzunehmen. Viele kommen heute noch in Kostümen, als Teufel, Monster und Magier.«
    »Ich dachte, der Brocken sei der Blocksberg der alten Sagen?«
    »Oh, das nimmt hier keiner so genau«, hatte sie gemeint und auf ihre unschuldige Art gelächelt. »Ob Blocksberg oder Hexentanzplatz – fest steht, dass die Menschen in Heerscharen dorthin pilgern. Es dürfte nicht allzu schwer sein, in einer solchen Masse unterzutauchen.«
    Ihre Erklärung klang einleuchtend. Fenns Leute durften sich nicht mit ihm sehen lassen. Michaelis würde eine kleine Armee zu ihrer Beobachtung abstellen, sobald er von dem Ausflug erfuhr. Carsten war sicher, dass man sie in Thale erwarten würde.
    Sie brauchten über eine Stunde, ehe sie die Stadtgrenze passierten. Im Zentrum staute sich der Verkehr, und irgendwann gerieten sie an eine Straßensperre, von der aus es nur noch zu Fuß weiterging. Sie fanden einen Parkplatz, stiegen aus und machten sich auf den Weg zur Seilbahnstation. Von dort aus schaukelten kleine Gondeln hinauf zu einer mächtigen Felsenklippe, die weit über der Stadt thronte. Dort oben, auf dem Hexentanzplatz, tauchten Scheinwerfer den Wald in unirdisches Licht.
    Der Weg zur Station war voller Menschen. Einige hatten sich Dämonenfratzen über die Gesichter gezogen, andere trugen aufwändige Kostüme. Die höllische Maskerade stand in krassem Widerspruch zum lärmenden Frohsinn der Menge. Vampire, Teufel und immer wieder Hexen kreuzten ihren Weg. Über die Straße hatte man dünne Drähte gespannt, an denen lebensgroße Puppen hingen, alte Frauen in wehenden Kleidern, auf Besen reitend, mit schwarzen Augen, die das Geschehen am Boden misstrauisch beobachteten. Die Straße führte eine dunkle Allee hinunter und durch ein kurzes Waldstück. An ihrem Ende stand ein graues Gebäude. Die Gondelbahn begann und endete in der oberen Etage. An die hundert Menschen zwängten sich in die Halle im Erdgeschoss. Carsten sah sich unauffällig nach Fenn und Sandra um; gleichzeitig war ihm klar, dass es so einfach nicht sein würde. Das Risiko, sich hier offen zu zeigen, war viel zu groß. Sie würden nicht einen Schritt machen können, der nicht von Michaelis' Männern überwacht werden würde.
    Sie brauchten eine Ewigkeit, bis sie zwei Fahrscheine ergattert hatten. Auf der Treppe zum zweiten Stock drängten sich Dutzende von Menschen und warteten auf einen Platz in den Gondeln. Fast eine halbe Stunde verging, ehe sie die letzte Stufe erklommen hatten. Carsten sah auf die Uhr. Zehn nach zehn. Sie waren zu spät.
    Draußen war es mittlerweile stockdunkel. Überall Maskierte, überall Lärm. Vor ihnen wartete ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern. Die beiden trugen Teufelsmasken und stritten sich lautstark darum, wer furchterregender aussah. Carsten wünschte sich nichts mehr, als endlich aus diesem Gewimmel verschwinden zu können. Aber er machte sich nichts vor; die Menschenmenge war ihre einzige Chance, mit Fenns Leuten Kontakt aufzunehmen. Und mit Sandra.
    Nina wirkte nicht viel glücklicher als er selbst. Ehe sie endlich schiebend und drückend den Durchgang zur Gondelplattform erreicht hatten, waren beide völlig durchgeschwitzt. Der Gedanke, wie all die anderen Menschen freiwillig hierherzukommen, schien völlig absurd.
    Die Familie vor ihnen wurde in eine der engen Kabinen gepfercht. Als Nächstes waren sie selbst an der Reihe. Carsten sah, wie eine leere Gondel heranschaukelte, geöffnet wurde.
    Und im gleichen Moment bemerkte er das halbe Dutzend Hexen, das hinter ihnen stand. Als sei das Erkennen in seinem Blick ein Signal, legte sich plötzlich eine

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