Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Nasenwurzel eine wulstige Narbe. Carsten hatte fast ein wenig Mitleid mit ihm. Er reichte ihm eine Visitenkarte und zog Block und Kugelschreiber hervor, damit der Mann die nötigen Informationen aufschreiben konnte.
    Aber der Rothaarige war schneller. Er kramte einen Stapel Zettel aus seiner Hosentasche – Kinokarten, zerknüllte Kassenbelege und ein paar undefinierbare Papierfetzen –, wählte ein mehrfach gefaltetes Blatt mit ausgefransten Rändern und nahm Carsten den Kugelschreiber aus der Hand. Mit zitternden Fingern kritzelte er Namen, Anschrift und Versicherung darauf, dann reichte er ihm beides.
    »Und glauben Sie mir, es tut mir leid«, sagte der Mann aufgeregt. »Ich war ganz woanders mit meinen Gedanken, wirklich, es tut mir leid und ich entschuldige mich vielmals. Wissen Sie, ich bin –«.
    Carsten winkte missmutig ab. »Schon gut. Melden Sie den Unfall einfach Ihrer Versicherung, und geben Sie ihnen meine Karte. Dann dürfte alles klargehen.«
    Der Mann ergriff völlig aufgelöst seine Hand, schüttelte sie ausgiebig und kletterte dann zurück in seinen Ford. »Es tut mir wirklich leid«, rief er noch einmal, bevor er davonfuhr.
    Die Gesichter in den umliegenden Fenstern zogen sich wieder zurück. Carsten stieg in seinen Wagen, setzte vor und zurück und kam zu der Einsicht, dass der Unfall keinen größeren Schaden angerichtet hatte. Der Wagen fuhr noch. Das war im Augenblick alles, was ihn interessierte. Vielleicht würden sie noch auf ein funktionstüchtiges Fahrzeug angewiesen sein.
    Er war noch keine dreihundert Meter gefahren, als ihm plötzlich etwas einfiel. Die roten Haare des Mannes. Irgendetwas war damit nicht in Ordnung gewesen. Schlecht gefärbt, vielleicht, oder eine Perücke. Und die Kerbe über der Nase – war das wirklich eine Narbe? Rückblickend erinnerte sie ihn ein wenig an den Rand einer Prothese; als hätte der Mann versucht, seinem Nasenrücken durch einen überschminkten Kunststoffaufsatz eine andere Form zu geben.
    Großer Gott!
    Im letzten Moment bewahrte er sich selbst davor, erschrocken auf die Bremse zu treten. Sie beobachteten ihn. Sie würden es sehen und Michaelis melden, genauso, wie sie es zweifellos mit dem Unfall tun würden. Er glaubte, den Zettel des Mannes in seiner Hosentasche zu spüren. Plötzlich schien er zu glühen, Hitze auszustrahlen, wie eine brennende Zigarettenkippe, die er sich versehentlich hineingestopft hatte. Er wagte nicht, das Papier hervorzuziehen, aus Angst, seine unsichtbaren Verfolger könnten es bemerken.
    Stattdessen steuerte er den Wagen Richtung Stadtrand, stellte sich ungeduldig an die Schlange vor einer Autowaschanlage und wartete mit bebenden Knien, bis er an der Reihe war. Der Kassierer, der zu ihm ans Fenster trat, brauchte ewig, bis er sein Wechselgeld beisammen hatte. Carsten hatte Angst, sie würden es als ungewöhnliche Hektik auffassen, wenn er zu viel Trinkgeld geben würde.
    »Sie wissen, dass Ihr Auto hinten beschädigt ist?«, fragte der Kassierer.
    »Ja, sicher.«
    Der Mann hob die Schultern. »Ich muss das sagen, damit Sie uns später nichts anhängen.«
    »Na, klar«, sagte er und zwang sich zu einem verständnisvollen Lächeln.
    Sekunden später schlossen sich die tosenden Bürsten der Waschstraße um den Wagen. Er zog den Zettel hervor. An der Adresse war nichts Ungewöhnliches, eine Straße in Tiefental. Allein die Tatsache, dass der Mann das Papier nicht auseinandergefaltet hatte, um sie aufzuschreiben, hätte einem Beobachter auffallen können; stattdessen hatte er Namen und Anschrift einfach auf den Rücken des geknickten Blattes geschrieben.
    Carsten faltete den Zettel auseinander, und da war es. Eine Botschaft, in einer Handschrift, die er kannte: Komm morgen Abend, 22 Uhr, nach Thale. Wir erwarten dich an der Seilbahnstation! Darunter ein Initial als Unterschrift: S.
    Die Fichten zogen als dunkle Mauer an ihnen vorüber, durchwoben von dichtem, verfilzten Unterholz. Vor einer Weile hatte die Dämmerung eingesetzt und tauchte die Wälder in ein magisches Glühen. Ein paar Sterne funkelten wie verlorene Diamanten im tiefen Dunkelblau des Abendhimmels. In jeder anderen Situation hätte Carsten den Anblick genießen können; jetzt aber war er viel zu beschäftigt damit, sich auszumalen, was sie an ihrem Ziel erwarten mochte.
    Immer wieder machte die dunkle Straße haarscharfe Kurven, die er erst im letzten Augenblick bemerkte.
    »Du fährst zu schnell«, bemerkte Nina auf dem Beifahrersitz.
    »Ich weiß«,

Weitere Kostenlose Bücher