Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
ihm dagegen weiterzumachen. Er schob es auf die Angst, auf die Anspannung, die Furcht um ihr Leben, auf die Nervosität, die sie beide gepackt hielt. Ihre Körper lösten sich voneinander, und sie sank wortlos an seine Brust, ganz warm, ganz nah, und doch ein wenig zu weit entfernt.
    Und im selben Moment dachte er etwas, das ihn erschreckte und fast zum Weinen brachte. Vielleicht war es nicht die Angst, die so abrupt zwischen sie gekrochen war. Vielleicht war es etwas anderes. Ein schlechtes Gewissen oder jemand anderes. Der Geist einer Toten, der Gedanke an eine Lebende.
    Vielleicht, dachte er, war es Sandra.

Kapitel 6
    Auf dem Weg zur Redaktion fuhr Carsten jeden Morgen über eine kleine Kreuzung im alten Stadtkern Tiefentals. Die beiden Gassen, die sich hier trafen, waren nur wenige Meter breit, zu schmal, als dass zwei Autos nebeneinander hindurchgepasst hätten. Die anliegenden Häuser standen hoch und eng beieinander, sodass die Kreuzung zu jeder Tageszeit im Schatten lag. Die Fassaden waren alt und dunkel und ohne die einst prächtigen Stuckarbeiten, die viele der anderen Gebäude im Stadtzentrum schmückten. Jahrhundertelang hatten in diesem Viertel die Armen gewohnt, einst die niederen Dienstboten, heute jene, die nicht einmal Arbeit hatten. Ein Großteil der alten Wohnungen stand leer, die Scheiben waren längst eingeworfen, die Türen zertreten. Gelegentlich sah man ein paar schmutzige Vorhänge hinter den heil gebliebenen Fenstern, in manchen Rahmen spannten sich Wäscheleinen. Hier und da beugte sich jemand hinaus und beobachtete die Straße, während im Hintergrund lautstark ein Fernseher dröhnte. Autos kamen nur selten vorbei, die meisten benutzten die bogenförmig um das Viertel verlaufende Hauptstraße. Carsten hatte schnell herausgefunden, dass der Weg durch die engen Gassen eine enorme Abkürzung zur Redaktion war. Als Carsten an diesem Morgen die Kreuzung überquerte, dachte er an die vergangene Nacht in der Pension. Zwei Stunden zuvor hatte er Nina vor ihrer Wohnung abgesetzt, ein wenig verschämt und doch erleichtert über die gelassene Fröhlichkeit, mit der sie ihn am Morgen geweckt hatte. Es gab keine Vorwürfe, keine Entschuldigungen, keine bissige Bemerkung. Selbst ihre Nervosität schien für den Moment verschwunden zu sein. Er fragte sich, wie er die Nacht und das, was geschehen war, werten sollte.
    Das brutale Kreischen von Autobremsen riss ihn zurück in die Gegenwart. Ein furchtbarer Ruck ging durch den ganzen Wagen, das Heck brach aus und schleuderte ein, zwei Meter nach rechts. Carsten wurde nach vorne in den Gurt gestoßen, seine Hände fuhren instinktiv nach oben und rammten schmerzhaft gegen das Radio. Augenblicklich jaulte Musik aus den Lautsprechern. Der Frontscheibenwischer begann trocken über das Glas zu kratzen. Carsten brauchte mehrere Sekunden, ehe er begriff, dass es einen Zusammenstoß gegeben hatte.
    Während er noch benommen versuchte, seinen Gurt zu lösen, erschien neben ihm am Fenster ein Gesicht. Ein hässlicher, rothaariger Kerl stand vorgebeugt da und starrte ihn an. Der Mann wirkte besorgt. Einen Augenblick lang schien er zu überlegen, ob er die Tür von außen öffnen und ihm Hilfe anbieten sollte. Dann entschied er sich zu warten, bis Carsten von sich aus ausstieg.
    »Es tut mir wirklich leid«, sagte der Mann, als Carsten, dem immer noch der Schreck in den Knochen steckte, mit ihm zum Heck des Wagens ging und den Schaden begutachtete.
    Eine hässliche Beule befand sich in seinem rechten hinteren Kotflügel. Wie durch ein Wunder waren alle Lampen intakt geblieben, aber Carsten hatte die böse Befürchtung, dass sich ein Teil der Karosserie verzogen hatte.
    Ein grauer, steinalter Ford stand auf der Kreuzung, die Fahrertür weit geöffnet, Scheinwerfer und Stoßstange auf der rechten Seite eingedrückt.
    »Ich bin von rechts gekommen«, stellte Carsten fest.
    Der Rothaarige nickte eilig. »Ich weiß, ich weiß. Sie hatten Vorfahrt. Aber wir brauchen keine Polizei. Ich nehme die Schuld auf mich.«
    Ein halbes Dutzend Fenster hatten sich geöffnet, neugierige Gesichter reckten sich ins Freie. Es gab genug Zeugen für den Unfall. Carsten nickte.
    »Geben Sie mir Ihre Adresse und den Namen Ihrer Versicherung«, bat er. Zu allem Ärger nun also auch noch das. Carsten betete, dass der Wagen noch problemlos fuhr, alles andere war ihm im Moment gleichgültig.
    »Sicher«, stammelte der Mann. Sein Äußeres war furchterregend. Zu aller Hässlichkeit hatte er an der

Weitere Kostenlose Bücher