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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gegen das dunkle, schmucklose Holz und wartete schweigend auf Antwort.
    Es vergingen einige Sekunden, dann ertönte von innen die Aufforderung einzutreten. Der alte Mönch verschwand durch einen schmalen Türspalt, es dauerte einen Augenblick, dann tauchte er wieder auf und bat Fenn hinein. Er selbst blieb zurück und verschloss die Tür nach Fenns Eintreten von außen.
    Fenn betrat einen hohen Bibliothekssaal. An den Wänden standen schmuckvolle Eichenregale voller Bücher, schwere Folianten, die seit Jahrhunderten ungelesen an ihren Plätzen verstaubten. In drei Metern Höhe umschloss den gesamten Raum eine hölzerne Balustrade, von der aus man zu weiteren, höhergelegenen Bücherregalen vorstoßen konnte. Die Decke war überzogen mit bleichen Malereien von Engeln, Göttern und himmlischen Schlachten. Dicke, flauschige Teppiche dämpften jeden Schritt zu einem unhörbaren Nichts. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saals, gut fünfzehn Meter von Fenn entfernt, befand sich ein Durchgang in eine zweite Bücherhalle und von dort aus weiter in eine dritte und vierte. Ein Spiegel im letzten Saal erzeugte den Eindruck von Unendlichkeit.
    An einem Tisch in der vorderen Halle saß ein Mönch, der sich bei Fenns Eintreten eilig erhob – Bruder Jacobus, der Abt des Klosters der Drei Kirchen und Hüter der Bibliothek. Das eigentliche Kloster lag rund dreißig Kilometer südlich der Stadt in einer einsamen Hügellandschaft, aber seine Bücherschätze waren bereits im vorigen Jahrhundert ins Zentrum ausgelagert worden, aus Angst vor den Plünderungen deutscher und russischer Armeen. Bruder Jacobus nahm trotz seines Alters – vor Jahren hatte er Fenn einmal erzählt, er sei bereits über siebzig – Tag für Tag die lange Fahrt in die Stadt auf sich, um persönlich für den Erhalt der Bibliothek zu sorgen. Innerhalb des Klosters gab es viele Kritiker und Neider, die ihn beschuldigten, seinen Aufgaben als Abt nicht gerecht zu werden. Jacobus scherte sich nicht darum, betete für ihre Seelen und ging weiterhin seinem bibliophilen Hobby nach.
    »Fenn, mein Freund«, grüßte er, kam mit weit geöffneten Armen auf seinen Besucher zu und drückte ihn herzlich an die Brust.
    Jacobus hatte schlohweißes Haar, buschige Augenbrauen und schmale, rissige Lippen. In seinem Blick schien stets ein fröhliches Funkeln zu glühen. Seine mächtigen Schultern und Oberarme hatten selbst im Alter nichts von ihrer Breite eingebüßt; als junger Mann musste er die Statur eines Holzfällers besessen haben. Die Kutte, die er trug, war ebenso schmucklos wie die seiner Untergebenen, seine Füße steckten in einfachen Leinenschuhen. Während der sechs oder sieben Besuche, die Fenn ihm im Laufe der Jahre abgestattet hatte, hatte der Abt nicht ein einziges Mal andere Kleidung getragen.
    Einmal, als sie im Klostergarten über einigen Flaschen Wein saßen, hatte er Fenn anvertraut, dass er mehr als ein Dutzend jener Kutten besaß; in dieser Hinsicht unterscheide er sich nicht allzu sehr von einer Frau mit Sinn für üppige Garderobe. Fenn hatte höflich geschmunzelt, aber der Abt schüttelte sich vor Lachen. Noch Stunden später schien ihm die Bemerkung Freude zu bereiten. Jacobus spielte den Kauz mit passioniertem Ehrgeiz. Nur den wenigsten gewährte er einen Blick hinter die Kulissen seines Laientheaters.
    »Was macht die Pferdezucht?«, fragte Fenn. Jacobus' zweite Leidenschaft neben der Bibliothek waren die Pferdeställe des Klosters.
    »Um diese Jahreszeit grasen die Tiere draußen auf den Koppeln. Das spart viel Arbeit.« Jacobus sprach Deutsch mit leichtem Akzent. »Kürzlich hat eine unserer Stuten bei einem Wettkampf in England den dritten Platz belegt.«
    »Was sagt der liebe Gott zu solchen Glücksspielen?«
    »Keine Glücksspiele. Sport, mein Freund, purer Sport. Ich bin sicher, der Herr hat Verständnis dafür.«
    Fenn sah sich um. »Gibt es eigentlich einen Menschen, der all diese Schinken liest?«
    Jacobus runzelte nachsichtig die Stirn. »Alte Bücher sind wie guter Wein. Man muss sie nicht lesen, nur besitzen und pflegen. Wir hoffen, noch in diesem Jahr die sechzigtausend Exemplare zu überschreiten.«
    »Eindrucksvoll«, sagte Fenn ohne großes Interesse.
    Der Abt lächelte. »Statt Krieg zu führen, solltest du gelegentlich ein Buch lesen.«
    Fenn schüttelte eilig den Kopf. »Derzeit habe ich andere Sorgen.«
    »Bleibt es bei dem geplanten Termin?«
    »Morgen Abend«, sagte Fenn und nickte. »Deine Brüder wissen

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