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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Öllampe. Durch ein Labyrinth verfallener Korridore führten sie ihn hinauf ans Tageslicht. Die letzte Treppe endete mitten im Trümmerfeld hinter dem Redaktionsgebäude, im Schatten eines Schutthügels aus Stein und rostigem Metall. Durch einen Durchbruch in der hinteren Grundstücksmauer traten sie auf einen schmalen Feldweg, auf dessen anderer Seite die Wälder begannen. Die Mauer der Fichten schien mit einem Mal noch finsterer, noch bedrohlicher zu sein. Zum zweiten Mal hörte er in der Ferne das Stöhnen des Windes, den Atem der Wälder.
    Ein schwarzer Mercedes erwartete sie. Michaelis stieg auf der Beifahrerseite ein, Carsten wurde von seinen Bewachern auf dem Rücksitz in die Mitte genommen. Der Fahrer war ein junger Mann mit Bürstenhaarschnitt.
    Während der Fahrt nach Leipzig sprach niemand ein Wort. Am Flughafen fuhren sie gleich hinauf aufs Rollfeld, wo ein kleiner Privatjet auf sie wartete.
    Die hintere Hälfte der Maschine war von der vorderen durch eine gepolsterte Trennwand abgeteilt. Michaelis verschwand durch die Zwischentür. Carsten blieb mit den beiden Bewachern zurück. Außer ihnen befand sich niemand in diesem Teil des Passagierraums. Einer der Männer wies ihm einen Platz am Fenster zu.
    Als er sich in den gepolsterten Sitz fallen ließ, wurde ihm klar, dass er endgültig den Überblick verloren hatte. Wem konnte er vertrauen, wem nicht? Hatte Nina ihn wirklich während der ganzen Zeit belogen? Wenn ja, weshalb? Tat sie es für Geld oder aus Überzeugung? Als ob das einen Unterschied machte.
    Nach dem Start bemerkte er die verstohlenen Blicke, die ihm die beiden Männer zuwarfen. Sie starrten auf sein Gesicht, und da erst begriff er, dass er weinte.
    Michaelis hatte recht. Sie waren keine Helden.

Dritter Teil
    Pakt

Kapitel 1
    Die steile Gasse lag eingebettet zwischen zwei krummen Häuserzeilen und führte über eine Vielzahl von Treppen und Absätzen hinauf zum Hradschin. Die Prager Burg war von hier aus nur zu erahnen, ihre Türme und Zinnen lagen versteckt hinter den vornübergebeugten Dächern der alten Gemäuer. Zu beiden Seiten der Gasse schienen sich die spitzen, vorspringenden Giebel fast zu berühren, wie Haifischkiefer kurz vor dem Zuschnappen.
    Von weiter unten, aus dem Gewirr der verwilderten Gärten und dunklen Paläste, den Parks und verfallenen Villen, drangen Geräusche herauf, vielfach verzweigt, als sei das Labyrinth der Gassen ein kompliziertes Adersystem, das eine totgeglaubte Stadt mit neuem Leben versorgte.
    Zwischen Treppen, Türmen und Hinterhöfen flossen die Ströme der Melancholie. Fenn atmete tief ein und aus, saugte den Geruch von jahrhundertealtem Holz und Gestein in sich auf und ließ sich treiben. Vorbei an verzogenen Türen und winzigen Fenstern. Vorbei an gläsernen Lampenkästen, die aussahen, als gehe auch heute noch Abend für Abend der Nachtwächter an ihnen vorüber, um die Flammen zu löschen.
    Längst waren Touristen mit Kameras und Boxershorts über weite Teile der Stadt hergefallen, doch hier, am Südhang des Hradschin, schien das Leben seinen Lauf zu nehmen wie vor Hunderten von Jahren. Gelegentlich tauchte ein Gesicht hinter den Sprossenfenstern auf, und einmal kam er an einer Gruppe spielender Kinder vorbei. Sonst aber schien die Gegend wie ausgestorben.
    Er wusste, dass der Eindruck täuschte; hier und da hatte die Zivilisation ihre Spuren in Form von Satellitenschüsseln und Telefonleitungen hinterlassen, und aus einem offenen Fenster drang gedämpft amerikanische Rockmusik. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nannte Prag sich Weltstadt, und dieser Status gab sich nicht allein mit den Cafés am Wenzelsplatz und Fremdenführungen über die Karlsbrücke zufrieden. Bald würde auch diese Gasse ihre Unschuld an Dollar, Yen und D-Mark verlieren.
    Auf halber Höhe zur Burg kam er an einem brüchigen Torbogen vorüber, blieb stehen und trat nach kurzem Zögern hindurch. Dahinter lag, eingebettet in ein Quadrat aus grauem, gebeugtem Mauerwerk, ein winziger Hof. An seiner Stirnseite befand sich ein zweiflügeliges Tor; die eine Hälfte stand offen. Ein alter Mönch in brauner Kutte kam auf ihn zu und grüßte ihn auf Tschechisch.
    Fenn erwiderte den Gruß und folgte dem Mönch ins Innere des Gebäudes. Der Mann führte ihn wortlos durch eine holzgetäfelte Eingangshalle und entlang eines Korridors, durch dessen Fenster zur Rechten ein kleiner, wildwuchernder Garten zu sehen war. Vor einem weiteren Tor blieben sie stehen. Der Mönch klopfte ehrerbietig

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