Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
das Lächeln zu erwidern, aber es wurde kaum mehr als ein Zucken daraus. Aus der Pistolenmündung an seiner Schläfe schien ein eisiger Lufthauch zu wehen. Er griff nach Ninas Hand, aber der Mann mit der Waffe trennte sie.
    »Nun gut«, sagte Fenn jetzt lauter. »Wir haben die beiden gesehen, Nawatzki. Ich muss sagen, dass Sie mich damit nicht sonderlich beeindrucken können. Diejenige, auf die Sie damit vielleicht eine Wirkung erzielen könnten, kann heute leider nicht an unserem kleinen Rendezvous teilnehmen.«
    Carsten hörte Schritte hinter sich, als die Gruppe der Leibwächter um Nawatzki und von Heiden einige Meter nach vorne rückte. Er wagte nicht, sich umzusehen.
    »Möchten Sie unsere Angelegenheit hier draußen auf dem Hof besprechen, Fenn?«, hörte er jetzt Nawatzkis schneidende Stimme.
    Der Agent schüttelte den Kopf. »Aber nicht doch. Folgen Sie uns bitte ins Haus.«
    Würden sie das wirklich tun? Konnten sie so dumm sein und ein Gebäude betreten, über das sie nichts wussten? Andererseits wenn Fenn so selbstverständlich davon ausging, dass Nawatzki mit ihm gehen würde, gab es vielleicht tatsächlich keine Falle. Die beiden Parteien würden sich einigen und im Anschluss gab es, als Dessert, zwei Hinrichtungen. Hör auf damit, dachte er. Hör endlich auf damit.
    Der Tross um Nawatzki, Michaelis und von Heiden setzte sich in Bewegung. Er selbst und Nina blieben vorne und traten gleich hinter Fenn und seinen Leuten ins Innere des Klosters. Kühles Dämmerlicht umfing sie. Wieder griff er nach Ninas Hand, und diesmal hinderte ihn niemand daran.

Kapitel 2
    Viktor konnte die Kameras nicht sehen, aber er wusste, dass er sich mit jedem Schritt tiefer in ihre heimliche Umarmung begab. Der unsichtbare Beobachter, oben, im alten Überwachungsraum, konnte ihn jetzt sehen. Viktor stellte sich vor, wie winzige Objektive lautlos ihre Brennweite verstellten, näher an sein Gesicht zoomten, ihre Schärfe regulierten. Der Beobachter würde jede Bewegung auf seinen Bildschirmen verfolgen, so, wie es die Überwacher der Staatssicherheit getan hatten – damals, als man ihn hinauf ins Zimmer mit den Monitoren und Kopfhörern geführt hatte. Er war ein Künstler von Rang gewesen und hatte gute Kontakte zum Leiter der örtlichen Mfs-Vertretung gehabt. Sein Interesse hatte dem Stasi-Mann geschmeichelt. Damals hatte ihn der Offizier in das Geheimnis des Beobachtungsraumes eingeweiht. In jeder größeren Stadt wäre so etwas undenkbar gewesen; in einem Kaff wie Tiefental, wo jeder jeden kannte, war es möglich. Der Mann hatte ihm vertraut. Zu Recht.
    Seit dem frühen Abend lag er auf der Lauer. Gegen neunzehn Uhr hatte Steinberg, der alte Wachmann, seinen Posten hinter der Rezeption des Redaktionsgebäudes bezogen. Seitdem hatte niemand mehr das Haus betreten oder verlassen. Die Redakteure waren längst fort, die Lichter hinter den Fenstern erloschen. Demnach befand sich jetzt außer dem Wachmann nur noch eine einzige Person im Gebäude: der Mann oben im Beobachtungsraum. Es war längst an der Zeit, ihn auszuschalten.
    Viktor war nicht mehr der Jüngste – zweiundsechzig Jahre alt, und seine Ausbildung lag Jahrzehnte zurück –, aber noch konnte er mit einer Pistole umgehen. Es war ein eigenartiges Gefühl, nach all den Jahren den Pinsel wieder gegen den kalten Griff einer Waffe einzutauschen. Nur er konnte diese Aufgabe übernehmen. Er kannte als Einziger den Raum, und Fenn brauchte den Rest seiner Leute für wichtigere Dinge. Er hoffte verzweifelt, dass in Prag alles laufen würde wie geplant.
    Um das Gebäude zu erreichen, gleichgültig aus welcher Richtung, musste er durch das Sichtfeld der Kameras. Wohl oder übel. Wenn er einmal an der Mauer war, war der Rest ein Kinderspiel. Nein, kein Kinderspiel, verbesserte er sich. Es war immer noch schwierig genug. Der Beobachter war gewarnt. Er würde wissen, dass sich jemand im Haus herumtrieb, und auf der Hut sein.
    Viktor ging weiter über den dunklen Vorplatz, so locker und ungezwungen wie möglich. Aus den Wäldern wehte ein kühler Wind herunter. Die Nacht lag schwarz und bedrohlich über der Stadt. Die ehemalige Stasizentrale wuchs mit jedem seiner Schritte höher in den finsteren Himmel, wie ein steinerner Koloss, der sich langsam zu voller Größe aufrichtete.
    Sein Selbstbewusstsein schwand mit jedem Schritt. Fenn hatte ihn gewarnt. Du bist zu alt, hatte er gesagt. Aber Viktor hatte nur den Kopf geschüttelt. Ich schaffe das schon. Als ob er es noch nötig

Weitere Kostenlose Bücher