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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Alter hatte auch Vorteile.
    Er schob sich den Gang entlang, immer auf der Spur der schlagenden Türen. Ein kühler Luftzug strich durch die leeren Zimmer und Flure. Irgendwo schrie eine Katze.
    Mit einem Mal endete das Türenschlagen. Das Haus versank in eisiger Stille. Nur die Katze miaute ein letztes Mal. Dann Schweigen. Viktor drückte sich an die Korridorwand und überlegte fieberhaft. Hatte sein Gegner Verdacht geschöpft und schlich nun auf demselben Weg zurück? Lautlos diesmal. Lauernd. Tödlich.
    Viktor beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Er lief los, rannte so leise wie möglich den Korridor hinunter, bog um die nächste Ecke und erreichte endlich eine Treppe. Mit Riesensätzen, die ihn selbst überraschten, sprang er die Stufen hinauf.
    Der erste Stock.
    Noch mehr Stufen.
    Der zweite Stock. Dann der dritte.
    Jetzt zum Westflügel. Er wusste, wie baufällig dieser Teil des Gebäudes war. Er würde achtgeben müssen, wohin er trat. Schon nach wenigen Schritten gelangte er an eine Stelle, an der der Boden eingestürzt war. Der Gang wurde hier von einem zwei Meter breiten Abgrund unterbrochen. Unten war es stockdunkel. Er konnte nicht sehen, ob das heruntergefallene Gestein auch die unteren Etagen mitgerissen hatte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu springen. Zwei Meter. Zu schaffen, auch mit zweiundsechzig.
    Vielmehr als die Breite der Öffnung machte ihm ihre Tiefe zu schaffen, die er nicht abschätzen konnte. Möglicherweise würde der Boden dort, wo er landete, ebenfalls in sich zusammenbrechen. Falls ihn der Sturz nicht tötete, würde das zweifellos der Beobachter erledigen.
    Viktor trat einige Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang. Seine Landung ließ den Boden erzittern. Ein grausames Knirschen krächzte durch die Stille. Irgendwo brach und bröckelte etwas. Der Fußboden hielt. So schnell er konnte lief er weiter, tiefer hinein ins Gebäude, weiter in den Westflügel.
    Er kannte sich hier aus. Er erinnerte sich an eine Kreuzung und ein großes Zimmer ohne Fenster, das früher einmal ein Aufenthaltsraum für Klinikpatienten gewesen sein musste. In den Schatten standen ein paar uralte Sessel mit verschimmelten Bezügen. Sie hockten da wie lauernde Tiere.
    Hinter der nächsten Biegung befand sich der Korridor, an den der Kontrollraum grenzte. Er wusste, dass dieser Gang ebenfalls von einer Kamera überwacht wurde. Sollte der Beobachter noch in den unteren Stockwerken nach ihm suchen, konnte es ihm gleichgültig sein. Trotzdem durfte er sich nicht darauf verlassen. Vielleicht war der Mann längst auf einem anderen Weg wieder nach oben geeilt und erwartete ihn. Möglicherweise war er …
    Neben seinem Kopf explodierte die Wand. Staub und Mörtel wirbelten in einer riesigen Wolke in alle Richtungen. Steinsplitter hagelten gegen seine Wange und rissen blutige Furchen in die Haut. Der Einschlag hinterließ ein Loch im Mauerwerk, groß wie ein Kinderkopf.
    Viktor ließ sich zur Seite fallen, prallte auf sein linkes Knie und rollte sich stöhnend hinter die nächste Ecke. Ein zweiter Schuss peitschte durch den Korridor und riss eine lange Spur neben ihm in den Boden. Die Schüsse kamen von hinten. Der Beobachter musste ihm auf gleichem Wege gefolgt sein. Viktor hatte nicht einen Gedanken an diese Möglichkeit verschwendet. Du bist zu alt für solche Späße. Zu alt!
    Er hörte, wie die Schritte des Mannes näher kamen. Viktor schob die Pistole um die schützende Ecke und feuerte blind in die Richtung der Geräusche. Die Schritte stoppten. Als er vorsichtig um die Ecke blickte, war niemand zu sehen.
    Wenn ihm jetzt nicht das Glück zu Hilfe kam, war er tot. Sein Gegner wusste, wo er war, und hatte noch dazu den Heimvorteil. Der Mann kannte alle Winkel und Verstecke und war für solche Situationen gerüstet. Viktor hatte gehofft, ihn von hinten erledigen zu können, überraschend und sauber. In einer offenen Konfrontation hatte er die schlechteren Karten.
    Gehetzt atmete er ein und aus. Er zählte von fünf rückwärts, stolperte auf die Beine und lief los, den Gang hinunter. Aus dem Augenwinkel sah er, wie hinter ihm eine massige Gestalt breitbeinig auf den Korridor sprang. Dreimal wurde ein Abzug durchgerissen, dreimal loderte der Flur im teuflischen Flackern des Mündungsfeuers. Zwei Kugeln verfehlten ihn und hämmerten in die Wand. Die dritte streifte seine Hüfte. Mit einem Aufschrei ließ er sich nach vorne fallen, krachte auf den Boden, stieß mit der Schulter die nächstbeste Tür auf

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