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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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verräterische Laute. Dann wusste er, was er zu tun hatte. Es gab zahlreiche Treppen in dem Gemäuer. Er würde eine der abgelegeneren Treppen nehmen, um hinauf in den dritten Stock und von dort aus nach Westen zu kommen. Er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.
    Weiter. Der Gang endete an einer Tür. Wütend stellte er fest, dass sie verschlossen war. Sie aufzubrechen würde zu viel Lärm machen. Also ein anderer Weg. Er schlich den Korridor zurück und blickte durch den Durchbruch, in dem die Ratte verschwunden war. Dahinter sah er ein dunkles, fensterloses Zimmer. Der Schein der fernen Straßenlaternen reichte nicht mehr bis hierher. Es war stockdunkel. Fast. Auf der gegenüberliegenden Seite glaubte er eine Tür zu erkennen. Von dort aus konnte er auf einen Parallelgang gelangen, der zu einer Treppe führte. Es bestand die Gefahr, dass er sich irrte, aber das Risiko war kalkulierbar. Im schlimmsten Fall würde er einen kleinen Umweg machen. Darauf kam es jetzt nicht mehr an.
    Er stieg durch die schulterhohe Öffnung und wurde von der Finsternis verschluckt. Er sah schwach den Umriss der Tür vor sich, konnte aber in der Dunkelheit die Entfernung nicht abschätzen. Vielleicht sechs, sieben Meter. Er machte ein halbes Dutzend Schritte. Dann hörte er einen Laut.
    Die Ratte, dachte er.
    Das Geräusch wiederholte sich.
    Es kam nicht aus diesem Raum!
    Es kam von der Tür. Aus dem Gang, der dahinter lag.
    Da, noch einmal! Ein Knirschen, wie von rostigen Scharnieren. Jemand ging den Korridor entlang und kontrollierte die Zimmer! Wieder das Geräusch einer Tür, die aufgestoßen wurde. Es kam aus dem Raum nebenan. Das Zimmer, in dem er sich befand, war als nächstes an der Reihe.
    Viktor zögerte nur eine Sekunde. Er überlegte, ob er einfach abwarten und es auf eine direkte Konfrontation ankommen lassen sollte. Nein, zu gefährlich. Zurück zum Mauerdurchbruch und fliehen? Keine Zeit. Also ein Versteck. In diesem Raum. Dabei konnte er nicht einmal erkennen, ob sich irgendwo in der Dunkelheit Möbel befanden. Blind tastete er sich vor, schlug sich seitwärts in die Finsternis, fühlte eine Holzoberfläche. Ein Schrank! Er zog am Griff. Die Klappe öffnete sich, er huschte hinein. Spinnweben legten sich wie eine zweite Haut über sein Gesicht. Nicht abwischen, ruhig stehen bleiben!
    Die Zimmertür wurde aufgestoßen. Krachend flog sie gegen die Wand. Ein Lichtstrahl geisterte durch den Raum. Viktor sah seinen Schein durch die Ritzen und Fugen im Holz. Er betete, dass der Mann seine Durchsuchung nicht allzu genau nahm. Er konnte unmöglich jedes Möbelstück kontrollieren.
    Er hörte Schritte. Ganz langsam. Sie näherten sich.
    Und im gleichen Augenblick spürte er sie. Ratten! Mindestens ein Dutzend. Sie schoben sich am Boden des Schrankes über- und untereinander. Er war mitten in ein gottverdammtes Nest geraten.
    Der ungebetene Besucher machte die Tiere nervös. Bei jeder ihrer hektischen Bewegungen raschelte es. Der Lichtschein verharrte jetzt auf dem Schrank. Im Zwielicht, das die hellen Ritzen ins Innere warfen, erkannte Viktor, dass die Ratten noch sehr jung waren. Sie rieben ihre borstigen Mäuler an seinen Schuhen. Eine versuchte, an seinem Hosenbein hinaufzuklettern. Angewidert hielt er still. Er hob die Pistole und richtete sie von innen auf die Schranktür. Er hielt den Atem an und schwitzte erbärmlich.
    Die Ratten hatten am Fuß der Schranktür eine Öffnung ins Holz genagt, gerade groß genug, um hindurchzuschlüpfen. In Anbetracht seiner Größe schienen sie auf eine Verteidigung des Nestes zu verzichten und drängten sich jetzt der Reihe nach durch das Loch ins Freie. Von draußen ertönte ein Fluch, als der Mann die schwarzen Leiber bemerkte, die ihm entgegenquollen. Der Lichtstrahl zuckte zur Seite, Viktor hörte eilige Schritte. Dann wurde mit einem Krachen die Tür zugezogen.
    Er atmete tief durch. Sicherheitshalber blieb er noch eine Weile stehen. Dann verließ er den Schrank. Jetzt erst bemerkte er, wie erbärmlich es im ganzen Raum nach Rattenkot und Urin stank. Er schüttelte sich vor Ekel.
    Langsam drückte er die Klinke hinunter. Immer noch wurden in weiter Ferne Türen geöffnet und wieder geschlossen. Im Augenblick schien er hier sicher zu sein. Der Lärm, den sein Gegner veranstaltete, machte es einfacher, seine Position zu bestimmen. Offenbar rechnete der Beobachter nicht damit, dass von dem alten Mann, den er an der Außenmauer gesehen hatte, eine Gefahr ausging. Sein

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