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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hätte, sich selbst etwas zu beweisen.
    Noch fünf Meter. Dann war er an der Mauer. Er schlenderte daran entlang, als suche er etwas auf dem Boden, das er früher hier verloren hatte. Er glaubte nicht, dass der Beobachter sich nur einen Moment davon täuschen ließ. Egal. Weiter.
    Er bog um die linke Ecke des Gebäudes. Die Seitenwand reichte hier nur wenige Schritte in die Tiefe, dann stieß sie gegen die alte Stadtmauer. Genau in der Mitte der Wand befand sich ein Fenster. Es lag im toten Winkel der Kameras und war seit Jahrzehnten zugemauert. Der Mörtel war alt und bröcklig. Viktor presste mit aller Kraft beide Hände dagegen und spürte, wie die Steine nachgaben. Schweiß brach ihm aus allen Poren. Sein Herz pochte. Alles musste jetzt sehr schnell gehen. Er musste hineinkommen, ehe der Beobachter ahnte, wo er sich befand, und ihn auf der Innenseite erwartete.
    Jetzt! Mit einem trockenen Knirschen gab die morsche Mauer nach und kippte nach innen. Polternd krachten die Steine auf den Boden. Eine Staubwolke stieg auf und verdeckte sekundenlang die Sicht. Hochklettern, einsteigen, loslaufen. Viktor unterdrückte den starken Hustenreiz, den der Staub in seinen Lungen verursachte, stolperte über den Steinhaufen hinweg und glitt vorwärts in die Dunkelheit. Er zog die Pistole aus seiner Jacke und richtete sie sichernd nach vorne. Der Raum war leer. Eine offene Tür auf der anderen Seite sah aus wie ein klaffendes Maul. Er konnte nicht erkennen, was dahinter lag.
    Waren das Schritte? Nein. Vielleicht eine Ratte. Vielleicht auch nur Einbildung. Viktor lief so schnell er konnte zur Tür, verharrte kurz an der Wand daneben und sprang dann mit der Waffe im Anschlag hinaus auf den Gang. Niemand zu sehen. Kein Wunder, bei der Dunkelheit.
    Er hätte eine Taschenlampe benutzen können – zur Sicherheit trug er eine in der Innentasche seiner Jacke, zusammen mit drei gefüllten Magazinen –, aber er fürchtete, dass ihr Schein schon von weitem seinen Aufenthaltsort verraten hätte. Er musste versuchen, so weit wie möglich ohne Licht auszukommen.
    Zuallererst galt es, aus diesem Teil des Gebäudes zu verschwinden. Es kam immer wieder vor, dass Personen ins Haus einbrachen, und nicht jeder hatte es auf Ärger abgesehen. Aber er bezweifelte, dass der Beobachter ihn als harmlos einstufen würde. Der Mann kannte sein Gesicht, wenn nicht von früher, dann von seinen Besuchen in der Redaktion. Wahrscheinlich wusste er sogar, dass Viktor zu Fenns Leuten gehörte. Er würde ihn suchen, zweifellos. Und Viktor durfte nicht zulassen, dass er selbst zum Gejagten wurde. Zur Not würde er sich für die nächsten Stunden irgendwo verstecken und erst zuschlagen, wenn sein Gegner nicht mehr mit ihm rechnete. Seine Stärke war der Angriff aus dem Hinterhalt. Nur so konnte er den anderen schlagen. Aber er war längst nicht mehr so zuversichtlich wie noch vor wenigen Stunden. Trotzdem – er hatte die Sache begonnen und musste sie zu Ende bringen.
    Geduckt und immer noch mit der Waffe im Anschlag lief er nach links, tiefer ins Gebäude hinein. Ganz langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit.
    Der Gang war völlig leer. Keine alten Möbel, keine Bilder. Das, was von der Tapete übrig geblieben war, hing in feuchten, ausgefransten Fetzen von der Wand. Sie erinnerten ihn an Teufelszungen aus Boschs Höllenvisionen. Nimm nur dem anderen die Arbeit ab, und mach dich selber fertig, dachte er.
    Die Ungewissheit machte ihm zu schaffen. Hatte der Beobachter sich auf die Suche nach ihm gemacht oder nicht? Saß er immer noch in seinem Überwachungsraum im Westflügel? Oder lauerte er vielleicht nur wenige Schritte entfernt in den Schatten? Viktor musste mit allem rechnen. Selbst damit, dass der Beobachter ausgerechnet heute nicht alleine war und er es plötzlich mit mehreren Männern zu tun haben würde.
    Er erreichte eine Stelle, an der sich der Korridor mit einem anderen kreuzte. Die Türen rechts und links waren geschlossen. Er nahm an, dass dahinter früher die Insassen untergebracht waren, damals, als der Komplex noch eine Heilanstalt gewesen war.
    Ein Rascheln ließ ihn herumfahren. Diesmal sah er, dass es eine Ratte war. Sie huschte nur wenige Meter vor ihm über den Gang und verschwand in einem Mauerdurchbruch. Gute Augen hin oder her – er war kein junger Mann mehr. Das Alter hatte ihn schreckhaft gemacht.
    Er musste sich jetzt entscheiden. Warten oder der Weg in den Westflügel. Noch einmal horchte er auf Schritte oder andere

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