Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
seine Schulter drückte. »Es tut mir so schrecklich leid.«
    Da war kein schlechtes Gewissen mehr, als er sie fester an sich zog, das Gesicht in ihrem Haar vergrub und seinen Tränen freien Lauf ließ. Er wollte ihr sagen, dass er sie liebte, jetzt und wirklich und immer.
    Als hätte sie es geahnt, hob sie den Kopf, sah ihm in die Augen und flüsterte leise: »Sag es nicht.«
    Sie küssten sich, fingerten an Knöpfen und Verschlüssen, streiften ihre Kleidung ab und kümmerten sich nicht darum, ob jemand lauschte oder zusah.
    Ich liebe sie wirklich, dachte er, als sie auf die Matratze sanken. Sandra war niemals so tot wie in diesem einen Augenblick.
    Am frühen Abend des folgenden Tages kam Michaelis zu ihnen ins Zimmer. Er trug einen schwarzen Mantel, der sich unter seiner linken Schulter ausbeulte. Er ist bewaffnet, dachte Carsten. Entweder bringen sie uns jetzt um oder …
    »Es geht los«, sagte Michaelis.
    Hinter ihm trat ein blonder Mann herein, ihm folgte eine junge Frau mit wallendem roten Haar. Sie war hübsch, zweifellos, aber da war etwas in ihrem Blick, etwas Lauerndes, Tückisches. Beide trugen schwarze Overalls. Nina stieß ihn unauffällig mit dem Ellbogen an. Das waren die beiden. Das Pärchen, das sie entführt hatte.
    »Wo bringen Sie uns hin?«, wollte Nina wissen.
    »Hat Ihr Freund Ihnen das nicht erzählt?«, fragte Michaelis erstaunt.
    Natürlich hatte er.
    »Sie werden uns beide zu unserer Verabredung mit Fenn und seinen Leuten begleiten.«
    »Und weiter?«, fragte Carsten.
    »Wir werden sehen. Machen Sie sich keine Sorgen.« Er sagte nicht Niemand wird Ihnen etwas zuleide tun. Die Zeit der Heuchelei war endlich zu Ende.
    Carsten lächelte plötzlich. »Hat Ihnen die Show gefallen?«
    Überraschung huschte über Michaelis' Gesicht. »Wie meinen Sie das?«
    »Sie haben zugesehen, nicht wahr? Oder wenigstens an der Tür gelauscht.«
    »Lassen Sie das«, sagte Michaelis barsch. Die Bemerkung hatte ihn unvorbereitet getroffen. Ein kleiner Triumph, den Carsten sich gönnte.
    Michaelis' Verunsicherung hielt nur für einen Moment an, dann wandte er sich zur Tür. Der Mann und die Frau traten zur Seite, um ihn durchzulassen, blieben selbst aber beide im Zimmer. Der Mann warf ihnen eine Plastiktüte zu.
    »Ziehen Sie das an«, sagte er. Beide trugen ebenfalls Schulterhalfter aus schwarzem Leder. Carsten fragte sich, womit sie die prallen Overalltaschen gefüllt hatten. Munition, vielleicht. Nina packte einen Stapel gefalteter Kleidungsstücke aus der Tüte. Für beide je ein weißes Sweatshirt und helle Jeans. So geben wir bessere Zielscheiben ab, vermutete Carsten.
    »Was passiert, wenn wir das nicht anziehen?«, fragte er.
    Der Mann verzog keine Miene. »Reden Sie keinen Blödsinn, und tun Sie, was ich gesagt habe.« Er zog keine Pistole; das war nicht nötig.
    Sie wechselten ihre Kleidung, wie er es verlangt hatte, und folgten dann den beiden hinaus auf den Flur. Die Tür des Nebenzimmers stand offen. Carsten erkannte im Vorbeigehen elektrische Geräte und einen Kopfhörer. Er hatte recht gehabt. Man hatte ihnen zugehört.
    Vor dem Haus standen drei dunkle Mercedes-Limousinen und blockierten die Straße. Als sie hinaustraten, schlossen sich gerade die Türen der ersten beiden. Er nahm an, dass Michaelis, Nawatzki und von Heiden darin saßen. Das Pärchen führte sie zum dritten Wagen und schob sie auf die Rückbank. Die Frau nahm hinten mit ihnen Platz, der Mann setzte sich neben den Fahrer. Die Kolonne fuhr los.
    Sie würden sie erschießen. Spätestens nach dem Treffen würde Michaelis sie töten lassen. Carsten hoffte, dass er zuvor noch einmal Nawatzki und von Heiden ins Gesicht sehen konnte. Nicht, dass es sie beeindrucken würde.
    Nina tastete nach seiner Hand und hielt sie fest. Das weiße Sweatshirt stand ihr gut. Es war grotesk. Einmal kam ihm der Gedanke, dass es das Weiß von Leichenkleidern war, klinisch sauber, biologisch abbaubar. Fast hätte er sich übergeben.
    Prag hatte ein Nachtgewand aus funkelnden Diamanten übergestreift. In der Dunkelheit leuchteten Fenster und Leuchtreklamen wie Edelsteine. Die Lichter am klaren Sternenhimmel verblassten dagegen zur Bedeutungslosigkeit. Carsten blickte zu Nina hinüber und sah, dass sie lächelte. Fast ein wenig verträumt. Störe sie nicht, dachte er, an was immer sie gerade denken mag.
    Sie passierten die Stadtgrenze und glitten hinaus in die Dunkelheit der Wälder und Hügel. Die schwarzen Umrisse der Bergrücken sahen aus wie schlafende

Weitere Kostenlose Bücher