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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Anspannung und der Zorn der vergangenen Tage in einer großen Woge über ihn hinwegdonnerten. »Es stimmt doch, oder? Sag mir verdammt nochmal, ob es stimmt!«
    Immer noch mit einem Ausdruck völliger Verwirrung starrte sie ihn an. »Aber … das kann doch nicht …«
    »Sag mir endlich die Wahrheit!«, schrie er.
    »Nein!«, brüllte sie zurück. »Wenn sie das behaupten, lügen sie.« Er sah, dass ihre Hände zitterten. Ihm selbst ging es nicht besser.
    Er löste den Blick von ihr und sah aus dem Fenster. Durch die schmutzige Scheibe konnte er einen finsteren Hinterhof erkennen. »Michaelis sagt, du hättest mich während der ganzen Zeit für sie bespitzelt.«
    Sie schüttelte verständnislos den Kopf, als begreife sie überhaupt nicht, was er da sagte.
    »Du hast mir geraten, nicht zur Polizei zu gehen«, fuhr er fort. Er konnte ihr immer noch nicht in die Augen sehen. »Außerdem bist du freiwillig hierhergekommen, sagt Michaelis.«
    »Freiwillig!« Sie sprang mit einem Satz auf und trat auf ihn zu. »Glaubst du das wirklich? Lieber Gott! Ja, es stimmt, dass ich ein paar Berichte für das Mfs geschrieben habe. Aber das ist über drei Jahre her. Damals war ich nicht mal zwanzig, und sie haben mir die Wohnung besorgt, auch ohne Hochzeit. Ich habe ein paar Dinge über Frauen aus dem Kinderhort geschrieben, sonst nichts. Kein Wort über Sebastian!« Sie schluckte bei der Erinnerung und schüttelte noch einmal den Kopf, ganz langsam. »Aber über dich? Für Michaelis? Das ist absurd. Sieht das hier für dich aus, als sei ich freiwillig hier? Ja? Ich kann dir sagen, wie ich hierhergekommen bin. Ein Mann und eine Frau standen plötzlich in meiner Wohnung, holten mich aus dem Bett und warfen mich in einen Lieferwagen. Und ein paar Stunden später war ich in Prag, in dieser Bruchbude hier. Und du glaubst, ich hätte das freiwillig getan?« Sie ließ den Kopf sinken und lehnte sich gegen die Wand, als hätte sie jedes einzelne Wort zu viel Kraft gekostet. »Das ist doch alles nicht wahr«, flüsterte sie.
    »Was ist mit der Polizei?«
    Sie sah ihn wieder an, aber er wich ihrem Blick aus. »Ich hatte Angst«, sagte sie. »Genau wie du. Was glaubst du, hätten sie getan, wenn wir die Sache gemeldet hätten? Denkst du wirklich, dann wären wir beide hier? Wahrscheinlich hätten sie uns in irgendeinen See geworfen, wie diesen Kirchhoff.«
    Er war völlig durcheinander. In seinem Kopf schien ein Wespenschwarm zu nisten, der summend und stechend nach einem Ausweg suchte. Plötzlich wollte er sie nur noch in die Arme nehmen, ihren Herzschlag und die Wärme ihrer Haut spüren. Aber er brachte es nicht über sich nach dem, was er ihr vorgeworfen hatte. Vielleicht war es besser so.
    »Und glaubst du nicht«, fuhr sie fort, »dass sie schon viel früher eingegriffen hätten, wenn ich ihnen alle Informationen gegeben hätte, die sie brauchten? Was ist mit deinem ersten Treffen mit Fenn in Leipzig? Meinst du nicht, sie hätten uns niemals bis nach Thale kommen lassen, wenn sie davon gewusst hätten? Wem glaubst du eher, mir oder einem Mann, der wer weiß wie viele Menschen auf dem Gewissen hat? Siehst du denn nicht, was er mit uns tut?« Ihre Stimme klang jetzt verzweifelt, aber sie weinte nicht mehr. »Sie werden uns ohnehin umbringen.«
    Die Nähe ihres Körpers machte ihn schwächer und schwächer. Er wusste, dass sie recht hatte. Doch gleichzeitig war da die Verwirrung in seinem Kopf. Es wäre so leicht gewesen, wenn es jemanden gäbe, dem er die Schuld an all dem zuschieben konnte. Jemanden, den er verletzen könnte, einfach nur, um sich danach besser zu fühlen. Aber Nina war unschuldig – unschuldiger als jeder andere, der mit in dieser Sache hing. Er selbst hatte sie mit hineingezogen, genau wie Sebastian und Sven Kirchhoff. Ohne ihn wären beide noch am Leben. Er durfte nicht zulassen, dass es ein drittes Mal geschah. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er eher sterben würde, als zuzulassen, dass sie ihr etwas antaten.
    Er spürte, wie sie sich näher an ihn heranschob, wie sich erst ihre Arme, dann ihre Oberkörper berührten. Er fühlte das schnelle Pochen über ihrer Brust, das Rasen ihres Pulsschlages. Er roch sie, schmeckte sie. Plötzlich fühlte er, wie ihm Tränen übers Gesicht liefen, nass und heiß wie Blut. Er weinte zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden, und wieder spürte er kein Schamgefühl. Nein, es war gut. Es half ihm, zu vergessen. »Es … es tut mir leid«, flüsterte er, als sie ihr Gesicht an

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