Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
abhandengekommen war, wurde durch einen ironischen, ganz und gar erwachsenen Zug um ihre Mundwinkel ersetzt. Sie wirkte überlegen und zugleich auf eine unbestimmte Art verletzt, als hätten die Jahre etwas mit ihr getan, dass sie nicht gewollt hatte. Die Art, wie sie sich bewegte, wie sie sprach, erweckte den Eindruck, als sei ihr Wesen, ihr Innerstes mit einem harten Narbengewebe überzogen. Es würde einiges dazugehören, diese Kruste zu durchbrechen. Als sich ihre Blicke trafen, fragte Carsten sich, ob er das überhaupt noch wollte.
    Ihre Augen funkelten, aber es war keine Wiedersehensfreude darin; zu seiner eigenen Überraschung spürte er selbst nichts dergleichen. Die Ereignisse hatten ihn verändert. Vielleicht hatte er es den letzten Tagen zu verdanken, dass er endlich erwachsen geworden war. Sandra war seine Jugendliebe gewesen, sie war es immer geblieben, aber die Frau, die nun vor ihm stand, war eine andere als das Mädchen aus seinen Erinnerungen.
    Sie reichten sich die Hände wie Freunde, nicht wie Liebende. Sandra drängte zur Eile. »Wir müssen fort von hier«, wiederholte sie. »Nawatzkis Leute haben Feuer gelegt. Die Brände breiten sich aus.«
    Als hätten ihre Worte seine Sinne aus einem Dornröschenschlaf geweckt, roch er plötzlich den beißenden Gestank von Qualm. Er blickte hinab in das Kirchenschiff und entdeckte eine dünne Dunstglocke, die wie Nebel über den Bänken und Steinplatten hing. Sandra hatte recht; es war höchste Zeit zu verschwinden.
    »Hier entlang.« Hagen deutete auf einen Durchgang, hinter dem eine gewundene Steintreppe weiter in die Höhe führte. Nina warf Carsten einen eigentümlichen Blick zu, den er auf Anhieb nicht deuten konnte, lief an ihm vorüber und folgte dem Mann die Stufen hinauf. Er und Sandra schlossen sich an.
    Die Treppe führte höher und höher. Plötzlich blieb Nina vor ihm stehen. Die Biegung versperrte ihm die Sicht auf Hagen. Carsten hörte, wie er sich gegen eine Tür warf. Das Schloss brach mit einem hässlichen Splittern, dann ging es weiter. Sie kamen auf einen langen Gang, in dessen rechter Wand sich ein Dutzend hoher Fenster befand. Hagen öffnete das erstbeste, stieg hinaus und reichte Nina die Hand. Sie schlug sie mit einem energischen Kopfschütteln aus und kletterte hinter ihm her. Carsten und Sandra folgten.
    Vor ihnen erstreckte sich eine leicht abfallende Fläche aus verwitterten Dachpfannen. Giebel, Dächer und Türme umgaben sie wie eine bizarre Landschaft aus Schiefer und Stein. Ein rotgoldener Schimmer lag wie Tau über den Spitzen und Kanten. Hundert Meter rechts von ihnen schlugen Flammen aus einem Dachstuhl. Mit einem Mal begriff Carsten, wie gefährlich ihr Vorhaben war. Unter jedem ihrer Schritte mochten die Schieferplatten einbrechen und sie in einen lodernden Abgrund reißen.
    Sandra trieb sie weiter zur Eile an. Balancierend schlitterten sie die Schräge hinunter und erreichten ein ebenes Feld aus bemoosten Steinplatten.
    »Wohin wollen wir überhaupt?«, fragte Nina, während sie die Fläche im Laufschritt überquerten.
    Sandra lächelte verbissen. »Seid ihr schon mal geritten?«
    Carsten stutzte. »Was soll das nun wieder heißen?«
    »Unsere einzige Chance, hier heil herauszukommen, sind die Ställe«, erklärte sie. »Die Mönche züchten Pferde. Nawatzkis Leute werden die Garagen überwachen, das heißt, wir kommen an kein Fahrzeug heran. Aber die Chancen stehen gut, dass sie die Pferdeställe übersehen. Vielleicht rechnen sie nicht damit, dass wir reiten können.«
    Carsten zog eine Grimasse. »Können wir denn?«
    Hagen hob die Schultern. Im Laufen wirkte die Bewegung komisch. »Falls nicht, können Sie gleich hier sitzen bleiben. Zu Fuß kommen Sie keine hundert Meter weit.«
    »Kannst du reiten?«, wandte Carsten sich an Nina. Er hatte schon als Kind Angst davor gehabt, ein Pferd zu füttern, geschweige denn, sich auf seinen Rücken zu setzen.
    »Ist lange her«, keuchte sie.
    Sie kamen ans Ende der Fläche und erklommen ein weiteres Dach. Als sie den Giebel erreichten, wuchs vor ihnen einer der Kirchtürme in die Höhe. Er brannte lichterloh, wie eine gigantische Fackel in der Nacht. Funken stoben wie glühende Insektenschwärme in alle Richtungen. Über das Prasseln hinweg hörten sie das peitschende Stakkato der Schusswechsel. Das Kloster war längst verloren.
    In einiger Entfernung sahen sie einen Mönch, der mit wehender Kutte über einen Dachfirst rannte, hinter sich zwei von Nawatzkis

Weitere Kostenlose Bücher