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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sie Sandra und Hagen in der Finsternis aus den Augen verloren, doch jetzt sahen sie, wie beide ihre Tiere eine Hügelflanke hinauflenkten. Nina brachte ihr Pferd dazu, ihnen zu folgen. Oben angekommen standen sie nebeneinander und blickten hinunter ins Flammenmeer des Klosters. Überall stolperten Männer aus dem lodernden Inferno, manche brannten und schrien. Carsten sah die zuckenden Spiegelungen der Flammen auf den Gesichtern der anderen. War es das wert gewesen? Erst als Sandra antwortete, wurde ihm klar, dass er die Frage laut ausgesprochen hatte.
    »Woran willst du das messen?«, erwiderte sie müde. »An der Zahl der Menschen, die Nawatzki und seine Leute auf dem Gewissen haben? Oder an den Politikern, die mit unseren Dokumenten stehen und fallen?« Sie schüttelte langsam den Kopf, ohne dabei den Blick von der tobenden Flammenhölle zu wenden. »Das da unten hat nichts mit Werten zu tun, Carsten. Hör auf, in solchen Kategorien zu denken.«
    Sie zog ihr Pferd an den Zügeln herum und galoppierte den rückwärtigen Hang hinunter, fort vom Kloster, fort vom Töten und Brennen und Schreien. Die anderen folgten ihr. Hinter ihnen neigte sich einer der drei lodernden Kirchtürme zur Seite, hing einen Moment lang wie schwerelos da und zerschlug dann mehrere Gebäude unter sich wie Schuhkartons. Glühende Dachziegel spritzten wie Lavatropfen in die Nacht.
    Carsten presste sich fester an Ninas Oberkörper. Er spürte ihren rasenden Herzschlag, roch Asche und Ruß in ihrem Haar. Er war froh, nicht in ihre Augen sehen zu müssen.
    Das alte Bauernhaus lag an einem felsigen Berghang, umgeben von einem rauschenden Meer aus Bäumen und dichtem Unterholz. Das Gebäude war kaum mehr als eine Ruine, seit langem unbewohnt. Die rechte Dachhälfte war vor langer Zeit nach innen gesackt und hatte einen Großteil der Zimmer unter Balken und Ziegeln begraben. Zwischen den Trümmern wuchsen Gräser und Unkräuter, in einigen Räumen war Efeu von außen über die Mauerkronen gewuchert und bedeckte die Wände wie ein grüner Vorhang.
    Carsten und Nina saßen auf einem Haufen Schutt und schwiegen. Wo einst das Dach gewesen war, wölbte sich über ihnen der dunkle Nachthimmel. Sandra stand an einem der zerbrochenen Fenster und blickte den Hang hinab zum Waldrand. Von draußen hörten sie, wie Hagen mit den Pferden von einem nahen Bach zurückkehrte. Die vergangenen Stunden waren anstrengend für die Tiere gewesen, nicht allein für ihre erschöpften Reiter. Die Pferde hatten sich Wasser und ein wenig Ruhe verdient.
    Sie hatten das alte Gehöft gegen Mitternacht erreicht. Fenn, Sandra und die anderen ihrer Gruppe hatten die Ruine als Treffpunkt ausgemacht, für den Fall, dass etwas schiefgehen sollte. Falls es zu einem Zwischenfall käme, hatte Sandra gesagt; Carsten hatte ihr laut ins Gesicht gelacht.
    Jetzt war es kurz nach halb drei, und immer noch war niemand aufgetaucht. Sie sind alle tot, dachte er. Alle tot.
    Er hatte den Gedanken kaum beendet, als ein Lächeln über Sandras Gesicht huschte.
    »Fenn!«, flüsterte sie und stürmte vom Fenster zur Tür. Sie riss sie auf und verschwand in der Nacht. Nach einigen Augenblicken hörten sie aufgeregte Stimmen.
    Carsten und Nina blieben sitzen. Sie warteten, bis die Stimmen näher und näher kamen. Schließlich betraten Fenn und einer seiner Männer das Haus, gefolgt von Hagen und Sandra.
    Fenns Pferdeschwanz hatte sich gelöst. Sein langes schwarzes Haar hing offen über die Schultern. Er sah aus wie ein Rockmusiker. Seine Instrumente waren die Pistolen in seinen Schulterhalftern.
    Der andere Mann, dessen Namen er nicht kannte, war klein, blond und jünger als die anderen. Sein Gesicht war von tiefen Pockennarben zerfurcht. Auf Stirn und Wangen klebte getrocknetes Blut, das aus einer Wunde unter seinem Haar geflossen war.
    Fenn ließ sich, ohne Carsten und Nina zu beachten, auf einem Haufen alter Steine nieder. Das Licht der Sterne legte einen kalten Schimmer über sein Gesicht. Er keuchte vor Erschöpfung. In unregelmäßigen Abständen zuckte sein Unterkiefer, als entwickelten seine Muskeln ein Eigenleben.
    »Was ist mit den anderen«, fragte Sandra. Sie alle konnten sich die Antwort denken.
    »Tot«, sagte Fenn.
    »Und Nawatzki?«
    Er senkte seinen Blick und schüttelte den Kopf. »Er, Michaelis und von Heiden sind uns entwischt.«
    Carsten fand das grotesk. Wenn jemand einem anderen entwischt war, so waren das Fenn und sie selbst. Er öffnete den Mund, um seinen Gedanken laut

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