Schweigenetz
wiederholte sie und schoss erneut.
Die Rothaarige blieb hinter der Säule in Deckung. »Das Mädchen stirbt, wenn Sie nicht sofort das Feuer einstellen«, schrie sie.
Carsten stand unentschlossen zwischen den Frauen und wusste nicht, was er tun sollte.
»Verdammt nochmal, komm endlich her!« Sandras Stimme klang fest und befehlsgewohnt.
»Hör auf zu schießen«, erwiderte er. »Sie darf Nina nichts tun.«
»Tun Sie, was er Ihnen sagt«, mischte sich die Rothaarige ein. »Sonst schieße ich das hübsche Gesicht des Mädchens in Stücke.«
»Was wollen Sie?«, fragte Sandra. Sie stellte tatsächlich das Feuer ein.
»Werfen Sie Ihre Waffen über die Brüstung. Dann kommen Sie langsam die Treppe herunter. Sie haben Niklas erschossen. Ich will Ihr Gesicht sehen.«
»Vergessen Sie's!«, rief Sandra zurück.
Carsten blickte panisch zwischen ihr und der Säule hin und her. Von seiner Position aus konnte er die Rothaarige nicht sehen. Kurzentschlossen drehte er sich um und ging so leise wie möglich auf die Säule zu. Die Rothaarige war völlig auf Sandra fixiert. Der Tod ihres Partners schien ihr nahezugehen, die Trauer machte sie unvorsichtig.
»Sie kommen hier nicht lebend heraus, wenn Sie das Mädchen töten«, rief Sandra von oben herab. Offenbar hatte sie Carstens Vorhaben erkannt und wollte ihm Zeit verschaffen.
»Werfen Sie endlich die Waffen runter!«, kam die Antwort. »Oder sie stirbt!«
Carsten näherte sich der Säule in einem Bogen, um sie von hinten zu umrunden. Noch vier Schritte, noch drei, noch zwei. Er hörte, wie es dahinter raschelte. Er war sicher, dass die Frau ihre Pistole auf Sandra gerichtet hatte, nicht auf Nina. Wenn er schnell genug war und sie überraschen konnte, hatte er vielleicht eine Chance.
Er streckte die Hand aus und berührte die kalte Oberfläche der Steinsäule. Sie hatte einen Umfang von eineinhalb Metern. Nina und die Rothaarige befanden sich genau auf der gegenüberliegenden Seite. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Frau sich nicht gerade in diesem Moment an ihn erinnern möge. Vorsichtig schob er sich entlang der polierten Steinoberfläche auf die andere Seite.
»Sie haben keine Chance«, rief Sandra, um von ihm abzulenken.
»Halten Sie den Mund, und tun Sie endlich, was ich Ihnen sage!«, ertönte es hinter der Säule. Die Stimme klang jetzt sehr nahe. Carsten spürte, wie weich seine Knie waren, hörte, dass sein Herz stampfte wie eine ganze Fabrik im Akkordtempo. Es war lange her, dass er zuletzt solche Angst gehabt hatte. Nicht einmal während des Fluges nach Prag und später in dem Zimmer in der Altstadt hatte er sich so elend gefühlt. Die Bedrohung von Ninas und seinem eigenen Leben war nie so konkret gewesen wie in diesem Augenblick. Er wusste, dass die Frau sie töten würde, wenn er nicht schnell genug handelte.
Letztlich war es seine Schuld, dass sie sich in dieser Lage befanden. Wie ferngesteuert war er dem Abgrund entgegengeschlittert, ohne eine Möglichkeit, vom vorbestimmten Kurs abzuweichen. Nina war nicht die Einzige, die er dabei mitgerissen hatte; er durfte nicht zulassen, dass es ihr ebenso erging wie den anderen.
Hier bot sich ihm endlich die Chance, in den Ablauf der Ereignisse einzugreifen. Zum ersten, vielleicht auch zum letzten Mal.
Carsten schob sich vorwärts und sah Ninas Profil hinter der Biegung auftauchen wie ein aufgehender Stern am Horizont. Ihr Gesicht glänzte, ihre Augen waren weit aufgerissen. Er hörte ihren schnellen, stoßweisen Atem.
Er blieb stehen. Die Rothaarige hatte immer noch den Arm um Ninas Schultern gelegt. Von seiner Position aus konnte er nur ihren Ellbogen erkennen. Fieberhaft überlegte er, was er tun konnte, ohne Nina zu gefährden.
»Worthmann!« Sein Name hallte unheilschwanger durch die Kirche. Die Stimme der Rothaarigen. Es wäre absurd gewesen, wenn sie ihn einfach vergessen hätte. »Kommen Sie vor, damit ich Sie sehen kann!«
Er brauchte einen winzigen Moment, um den eisigen Schrecken abzuschütteln, der ihn bei ihren Worten gepackt hatte. Sie rief in die entgegengesetzte Richtung. Sie wusste nicht, dass er bereits so nah bei ihr war. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf umher wie Motten im Licht. Bleib ruhig, sagte er sich.
Denk nach!
Die Rothaarige kam ihm zuvor. »Ich werde das Mädchen jetzt töten«, sagte sie. Er hörte das Knirschen eines gespannten Pistolenhahns.
Mit einer einzigen schnellen Bewegung stieß er vor, packte Nina an der Schulter und riss sie mit nach vorne. Die
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