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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Umklammerung der Rothaarigen löste sich, Nina keuchte auf. Sie stolperten ein, zwei Schritte zur Seite, in Richtung einer hölzernen Bank, die ihnen Deckung bieten würde. Die Frau überwand ihre Überraschung und riss die Waffe herum. Er spürte die Mündung in seinem Rücken wie einen glühenden Pfeil, aber noch hatte sie nicht gefeuert.
    Ein Schuss krachte wie infernalischer Donner und ging gleichzeitig im Poltern ihres Sturzes unter, als sie hinter der Bank zu Boden fielen. Panisch fragte er sich, ob er getroffen war, kam zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall war, und blickte auf Nina. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, er hatte sie mit seinem Gewicht unter sich begraben. Sie bemerkte die Angst und die Sorge in seinem Blick und schüttelte hastig den Kopf. Nein, kein Treffer.
    Irgendetwas stimmte nicht. Warum folgte die Frau ihnen nicht? Weshalb kam kein zweiter Schuss? Stattdessen hörte er nur Schritte und aufgeregte Rufe, die er nicht verstand. Ein Mann (ein Mann?) rief etwas. Vorsichtig hob er den Kopf und blickte über den Rand der Bank zurück.
    Der Platz vor der Säule war leer. Ein faustgroßes Stück war dort aus dem Stein herausgesprengt worden, wo vor einem Augenblick noch die rothaarige Frau gestanden hatte.
    Drei weitere Schüsse bellten jetzt durch das Kirchenschiff. Carsten fuhr herum, sah nach links. Dort entdeckte er sie. Die Rothaarige sprang in einem einzigen Satz über zwei Kirchenbänke hinweg, rollte sich dahinter ab und kam schwankend wieder auf die Beine. Hakenschlagend rannte sie in Richtung einer Seitentür.
    Sandra und ein schwarzhaariger Mann mit dunklem Bart hatten sie ins Visier genommen. Weitere Schüsse krachten, keiner traf. Die Rothaarige wich mit Bewegungen aus, die fast zu schnell waren, als dass er ihnen mit bloßem Auge folgen konnte. Noch nie hatte er jemanden gesehen, der sich so geschickt bewegte.
    Der Mann war auf der anderen Seite der Kirche aufgetaucht, durch dieselbe Tür, durch die die Rothaarige und ihr Begleiter hereingekommen waren. Er setzte jetzt dazu an, die Frau zu verfolgen, aber Sandras Ruf hielt ihn zurück: »Warte! Dazu ist keine Zeit!«
    Sie hatte den Satz noch nicht beendet, als die Rothaarige die Tür erreichte, sie blitzschnell aufstieß und verschwand. Der Mann warf Sandra einen finsteren Blick zu, befolgte aber ihre Anordnung.
    Carsten half Nina auf die Beine.
    »Alles in Ordnung?«
    Sie brachte ein bemühtes Lächeln zu Stande. »Ja, sieht so aus.« Sie sah an sich hinunter; außer einer Schürfwunde am Oberschenkel war sie unverletzt. Ihre Jeans war aufgerissen, die Stoffränder glänzten rot.
    »Bist du sicher, dass es nichts Schlimmes ist?«, fragte er.
    Sie nickte. »Brennt nur ein bisschen.«
    Sandra stand noch immer auf der Balustrade. »Kommt hoch, beeilt euch. Wir müssen so schnell wie möglich hier raus.«
    »Du willst über die Dächer?«, fragte der Mann.
    »Hast du eine bessere Idee?«
    Sie hatte recht, auch Carsten erkannte das. Im Irrgarten der Flure und Säle hatten sie keine Chance. Früher oder später würden sie dort auf eine Übermacht von Nawatzkis Leuten treffen. Dass sie ein zweites Mal so viel Glück haben würden, war unwahrscheinlich.
    Er wollte Nina stützen, als sie zur Treppe hinübergingen, aber sie schüttelte den Kopf. »Geht schon«, sagte sie.
    Sie erreichten den Fuß der Stufen zugleich mit dem Mann.
    »Schönes Wiedersehen, was?«, sagte er.
    Carsten blickte ihn verwundert an. Dann begriff er. Der Bart war neu und auch die dunkle Haarfarbe, aber das Gesicht kannte er. Die krumme, seltsam verwinkelte Nase, die vorstehenden Augen, der leicht verzogene Mund, das alles gehörte zu dem Mann, der ihm in Tiefental ins Auto gefahren war, um Sandras Botschaft zu übermitteln. Die Narbe, die er damals an der Nasenwurzel getragen hatte, war verschwunden, ebenso die abstehenden roten Strähnen. Heute war sein schwarzes Haar glatt zurückgekämmt, und auch der Bart schien sauber gestutzt – falls er echt war.
    »Ich heiße Hagen, wie der Nibelungenmörder.« Der Mann grinste; es machte ihn nicht schöner. »Wir kennen uns.«
    Hintereinander stiegen sie die Treppe hinauf, Nina in der Mitte. Sandra erwartete sie ungeduldig.
    Carsten hatte sich das Wiedersehen mit ihr unzählige Male vorgestellt, hatte überlegt, wie es sein würde, ihr nach all den Jahren gegenüberzustehen. Sie war noch immer eine Schönheit, daran hatten weder die Zeit noch ihr Training etwas ändern können. Was ihr an mädchenhaftem Charme

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