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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Männern.
    »Runter!«, befahl Sandra.
    Die vier ließen sich fallen und mussten zusehen, wie der Mönch von mehreren Treffern geschüttelt wurde. Sein lebloser Körper brach breitbeinig über dem Giebel in sich zusammen. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er auf dem Dach davonreiten, dann sackte sein Oberkörper zur Seite, und er verschwand lautlos in der Tiefe. Seine Mörder blickten sich um und liefen zurück zu der Dachluke, durch die sie gekommen waren. Nachdem sie im Gebäude abgetaucht waren, standen die vier auf und liefen weiter.
    »Diese Männer, die hier im Kloster leben, sind doch keine Mönche, oder?«, fragte Carsten.
    »Sicher sind sie Mönche«, erwiderte Sandra. »Ihr Orden ist bereits seit Jahrhunderten hier ansässig.«
    »Aber warum tun sie das? Warum helfen sie euch?«
    Sandra lächelte. Sie hatte diese Frage erwartet. »Die Äbte des Klosters haben sich immer gut darauf verstanden, mit den Herrschenden zu paktieren. Früher waren das Fürsten und Könige, dann der sozialistische Staatsapparat. Vor einigen Jahrzehnten erklärte sich der Abt des Klosters bereit, Männer mit einer, nun ja, ganz bestimmten Vorgeschichte in seinen Orden aufzunehmen. Das waren vor allem ehemalige Angehörige aller östlichen Geheimdienste, Männer, die aus den unterschiedlichsten Gründen von der Bildfläche verschwinden mussten, angefangen von Informanten bis hin zu weltweit gesuchten Spitzeln. Viele waren verdiente und hochdekorierte Männer, und auch in den Geheimdiensten des Ostblocks gibt es so etwas wie Loyalität. Man wollte sie nicht umbringen, selbst wenn das der einfachste Weg gewesen wäre. Also stellte man sie vor eine simple Wahl: den Tod oder ein Leben in Klöstern wie diesem hier. So hatten sie die Möglichkeit aus dem Blickfeld der internationalen Aufmerksamkeit zu verschwinden. Bruder Jacobus, der heutige Abt, und sein Vorgänger leisteten großartige Überzeugungsarbeit. Die meisten, die hierherkamen, fügten sich den Gesetzen des Ordens. Das war nicht überall so.«
    Carsten schüttelte verständnislos den Kopf. Sie bestiegen eine weitere Schräge; das Dächermeer schien kein Ende zu nehmen. »Aber das erklärt noch nicht, weshalb sie für eure Sache kämpfen. Und sterben.«
    »Fenn und Jacobus kennen sich seit Jahren. Unser Freund konnte den Abt überzeugen, seinen Brüdern ein Angebot zu machen: Die, die uns unterstützen, dürfen anschließend von hier fortgehen. Er wird sie nicht daran hindern. Ehe die zuständigen Stellen dahinterkommen, welcher von ihnen fehlt, welcher bei dem Angriff westlicher Spione ums Leben kam und welcher gar bis zur Unkenntlichkeit verbrannte, sind sie längst über alle Berge. Keine Lebensversicherung, aber zumindest eine reelle Chance, den Rest ihres Lebens in Freiheit zu verbringen.«
    Eine Rauchwolke wehte herüber und hüllte sie ein. Einen Moment lang hatten sie alle genug damit zu tun, vor lauter Husten und tränenden Augen nicht den Halt zu verlieren.
    Nina, die ebenfalls zugehört hatte, fing sich als Erste. »Und dieser Jacobus riskiert all das nur aus Freundschaft?«, fragte sie zweifelnd.
    Sandra nickte. »Ja.«
    Carsten und Nina wechselten einen Blick. Beide wollten noch etwas sagen, als Hagen sie mit einer Handbewegung zum Schweigen brachte und ihnen bedeutete, stehen zu bleiben.
    »Dort vorne ist es«, flüsterte er.
    Auf seinem Gesicht spiegelte sich der Schein der umliegenden Feuer. Wie flammende Gespenster zuckten rote und gelbe Schlieren über seine Züge. Carsten folgte seinem Blick und sah über den Rand des Daches hinunter auf einen kleinen Hof. An einer Seite begrenzte ihn ein zweiflügeliges Tor, dahinter lag der Stallkomplex. Als er über dessen Dach hinwegschaute, erkannte er, dass sie den äußeren Bereich des Klosters erreicht hatten. Hinter den Ställen lag die karge Hügellandschaft. Der Nachthimmel sah aus wie ein schwarzes Samttuch, das jemand mit funkelnden Perlen bestickt hatte. Manche Sterne strahlten so hell, dass sie selbst durch den dichten Rauch zu erkennen waren. »Das Feuer hat die Ställe noch nicht erreicht«, stellte Hagen aufatmend fest.
    »Seht doch«, sagte Nina und deutete nach links. Dort züngelten aus einem der benachbarten Dächer bereits erste Flammen wie die glühenden Tentakel eines Riesenkraken. In wenigen Minuten würden sie auf das Stallgebäude übergreifen. Hagen wurde kreidebleich.
    »Wir müssen uns beeilen«, sagte Sandra. Ehe jemand sie daran hindern konnte, schwang sie sich über die Dachkante in

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