Schweigenetz
Orientierung verloren. Schließlich war die Stimmung in dem engen Fahrzeug so gereizt, dass Hagen beschloss, noch einen zweiten Wagen zu stehlen. Carsten und Nina wechselten zu ihm hinüber.
Carsten war froh, aus Fenns Nähe verschwinden zu können. Er hegte keine Rachegefühle. Sebastians Tod schien eine Ewigkeit zurückzuliegen; seitdem hatte er so viele Tote gesehen und so oft um sein eigenes Leben fürchten müssen, dass der Mord an dem Freund im Rückblick immer verschwommener wurde. Ja, selbst Sebastians Bild verblasste in seiner Erinnerung, ohne dass er etwas daran hätte ändern können. Insgeheim war er froh darüber. Es machte alles so viel einfacher.
Sie übernachteten getrennt in zwei nah beieinanderliegenden Dörfern, nur wenige Kilometer vor der Grenze. Am nächsten Tag fuhren sie so nah wie möglich an die nächstbeste Grenzstation und ließen sich außerhalb ihrer Sichtweite in Paaren als Anhalter von vorbeifahrenden Wagen mitnehmen. Fenn hatte Carsten und Nina, deren Ausweise beim Wechsel ihrer Kleidung in Prag zurückgeblieben waren, mit falschen Pässen bestückt. Die Fotos waren so gewählt, dass sie auf eine Vielzahl von Personen passen konnten, ein Mann mit Vollbart und eine Frau mit zotteligem Haar, die die Gesichter darunter kaum erkennbar machten. Die Geburtsdaten machten sie beide um einige Jahre älter, aber keiner der Grenzposten hatte etwas daran auszusetzen. Am frühen Abend betraten sie deutschen Boden.
Sie trafen sich wie verabredet an einer Raststätte und brachten dort den übermüdeten Fahrer eines schwach besetzten Reisebusses dazu, sie bis zu dessen nächster Station, nach Leipzig mitzunehmen. Dort stahlen sie einen VW-Transporter und fuhren Richtung Harz. Gegen dreiundzwanzig Uhr, es war längst stockdunkel, erreichten sie die Ausläufer der Berge und tauchten in die finstere Stille der Wälder.
Fenn steuerte den Wagen über enge Serpentinen, durch tiefe Täler und über ein Netz holpriger Straßen, auf denen ihnen kein anderes Fahrzeug begegnete. Carsten verlor schon nach wenigen Minuten die Orientierung. Die Umgebung verschmolz zu vorbeihuschenden Schemen von Baumstämmen, die die Scheinwerfer aus der Nacht rissen. Einmal stand plötzlich ein Reh auf der Straße, und Fenn entging nur durch abruptes Bremsen im letzten Moment einem Zusammenstoß. Der brutale Ruck riss sie aus ihrem Halbschlaf, und sie verbrachten die nächste Dreiviertelstunde damit, wortlos und missmutig aus den Fenstern auf das immergleiche Bild der nächtlichen Wälder zu starren.
Plötzlich lenkte Fenn den Transporter von der Straße auf einen Waldweg, der vor Jahrzehnten einmal befahrbar gewesen sein mochte, heute aber nur noch eine Schneise aus Schlaglöchern, großen Steinen und Erdhügeln war. Sie wurden auf ihren Sitzen hin und her geworfen. Fenn hatte alle erdenkliche Mühe, die Kontrolle über das Fahrzeug zu behalten. Mehrfach befürchtete Carsten, die Achsen würden unter der Belastung brechen. Zu allem Überfluss hatten sie dann auch noch zu Fuß durch den mitternächtlichen Wald laufen müssen, einem Ziel entgegen, über das ihnen bislang weder Fenn noch Sandra oder einer der beiden Männer Auskunft gegeben hatte.
Nach einer Weile verlor er jegliches Zeitgefühl. Die Erschütterungen und das Bild der vorüberrumpelnden Bäume übten eine fast hypnotische Wirkung auf ihn aus. Er schätzte, dass eine weitere halbe Stunde verging, ehe sie erneut abbogen und schließlich anhielten. Sie ließen den Wagen zwischen den Bäumen stehen, wo er auch aus der Luft nicht zu erkennen war, und gingen das letzte Stück zu Fuß.
Einige Minuten später traten sie aus dem Dickicht auf eine Lichtung. Es war stockdunkel. Sie hatten keine Taschenlampe dabei, aber Fenn, Sandra und die beiden anderen liefen zielstrebig weiter, als würden sie jeden Quadratmeter des Bodens kennen.
Der Nachthimmel war wolkenverhangen, nach einer Weile jedoch gewöhnten sich seine Augen so weit an die Finsternis, dass er vor ihnen einen hohen, schlanken Umriss erkannte, der sich schwach von der Umgebung abhob.
Es war ein alter Wachturm, ein Relikt der gefallenen Grenze. Sie befanden sich auf dem ehemaligen Todesstreifen, der den Harz von Norden nach Süden in zwei Hälften teilte. Hier gab es weder Ansiedlungen noch befahrene Straßen. Eine verlassenere Gegend hätten sie sich als Versteck nicht wünschen können. Sandra hatte recht gehabt; wenn sie irgendwo vor ihren Verfolgern sicher waren, dann hier.
Er konnte nicht genau
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