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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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erkennen, was jenseits des Turmes lag, aber es schien, als ob der Boden wenige Meter dahinter wegbrach. Eine Schlucht, dachte er, natürlich. Der Wachturm übersah von hier oben aus eine Kluft und die umliegenden Wälder. Am Rande der Klippen standen schräge Betonpfeiler, Ruinen des früheren Grenzzaunes, die in der Dunkelheit wie Zähne eines monströsen Schlundes wirkten. Ein kalter Wind fegte aus der Schwärze herauf und ließ ihn frösteln.
    Fenn und die anderen zogen wie auf ein stummes Kommando ihre Waffen. Der Anführer der Gruppe stieß die Tür des Turmes auf. Im Inneren war es fast noch dunkler als hier draußen – falls das überhaupt möglich war.
    »Wartet hier«, flüsterte Sandra. Sie und Fenn schlichen ins Innere des Turmes und ließen Carsten und Nina mit Hagen und Junior zurück. Sie hörten von drinnen ihre Schritte auf einer Eisentreppe, während die beiden den Turm nach ungebetenen Besuchern durchkämmten. Nach wenigen Minuten kehrte Sandra zurück. »Alles klar«, sagte sie.
    Carsten und Nina folgten den anderen ins Innere.
    Hagen schloss die Tür, kramte irgendwo in der Finsternis und ließ eine Taschenlampe aufflammen. »Die können wir nur im Erdgeschoss benutzen, sonst kann man das Licht durch die Sichtfenster im zweiten Stock erkennen«, erklärte er.
    Carsten sah Kisten mit Vorräten und Waffen in dem ansonsten kargen Raum. Neben den Gitterstufen der schmalen Wendeltreppe gab es eine Falltür im Boden.
    »Was ist da drunter?«, fragte er.
    Sandra schüttelte den Kopf. »Das erfahrt ihr morgen Früh. Lasst uns erst ein paar Stunden schlafen.«
    Sie stieg die Treppe hinauf und forderte sie auf, ihr zu folgen. Hagen blieb mit der Taschenlampe zurück. Im ersten Stock erwartete sie ein ähnliches Bild wie unten. Im schwachen Schein, der durch den Treppenschacht heraufdrang, sahen sie Kisten und Kartons, dazwischen lagen sechs Schlafsäcke auf Isomatten.
    Sandra deutete in eine Ecke. »Sucht euch welche aus. Wir haben jetzt genug Platz für alle.« Bei den letzten Worten umspielte ein bitterer Zug ihre Mundwinkel.
    Carsten fragte sich, warum es nur sechs Plätze für ursprünglich sieben Personen gab. Die Antwort war klar. Einer hielt die Nacht über Wache und brauchte keinen Schlafsack.
    Bevor er sich hinlegte, wollte er noch einen Blick in die obere Etage des Turmes werfen. Sandra hinderte ihn nicht daran. Der Raum an der Spitze wurde nach allen Seiten von großen Sichtscheiben eingefasst. Die Mauer war nur hüfthoch. Fenn saß auf einem Drehstuhl und starrte hinaus in die Nacht. Erst nach einem Augenblick wurde Carsten klar, dass er sein eigenes, schwaches Spiegelbild im Glas betrachtete.
    »Ich übernehme die erste Wache«, sagte Fenn, ohne ihn anzusehen. »Einer der anderen wird mich später ablösen. Du kannst ab morgen mit einsteigen.« Es war das erste Mal, dass er Carsten duzte; selbst während ihres Streits in dem alten Bauernhaus waren sie beim förmlichen Sie geblieben.
    Carsten nickte. Ihm war es gleichgültig. Er war müde, trotzdem bezweifelte er, dass er würde einschlafen können. Nicht nach all dem, was passiert war. Schon in der vergangenen Nacht, im Gasthaus des kleinen tschechischen Dorfes an der Grenze, hatten er und Nina die meiste Zeit damit verbracht, sich gegenseitig Hoffnung zu machen. Als sie schließlich miteinander schliefen, war es eher ein Akt der Verzweiflung als der Liebe.
    »Wie wird es weitergehen?«, fragte er Fenn.
    Der Anführer zuckte mit den Schultern und vollführte mit seinem Stuhl eine langsame Drehung. »Wir bleiben hier«, sagte er.
    »Nicht für immer.«
    »Nein, aber bis wir eine Alternative gefunden haben. Ich habe noch alte Kontakte, die uns vielleicht helfen können, außer Landes zu fliehen.«
    Die Leichtigkeit, mit der Fenn die letzten Worte aussprach, schockierte Carsten. Auf einen Schlag wurde ihm bewusst, wie es tatsächlich um sie stand. Sie hatten sich mit einer Organisation angelegt, die sie früher oder später in jedem Winkel der Republik aufspüren würde. Sie waren jetzt Flüchtlinge, Vertriebene, ähnlich wie die Mönche in Jacobus' Abtei, dazu verdammt, sich in ein Schicksal zu fügen, das sie nicht selbst bestimmen konnten. Für einen irrsinnigen Augenblick erinnerte er sich an Elisabeth, seine alte Vermieterin, die in Frankfurt darauf wartete, dass er anrief und ihr erzählte, wie prächtig er sich im Osten eingelebt hatte.
    Wahnsinn, dachte er.
    »Was für Kontakte sind das?«
    »Bekannte von früher, Leute, die uns

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