Schweigenetz
vielleicht helfen werden, vielleicht auch nicht.«
Carsten lächelte bitter. Mit einem Mal spürte er nichts als den Wunsch, Fenn zu verletzen. »Menschen wie dein Freund Jacobus? Noch mehr potentielle Leichen?«
Fenn verzog keine Miene. »Jacobus geht es gut. Er konnte fliehen.«
»Andere konnten das nicht.«
»Was willst du damit sagen? Dass wir hier abwarten sollen, bis sie uns finden und töten? Das kann nicht dein Ernst sein. Das hier ist kein Ritterturnier, und wir sind keine selbstlosen Kämpfer in glänzenden Rüstungen.«
»So ähnlich hat sich Michaelis auch ausgedrückt.«
Fenn nickte. »Er hat recht. Das Ganze ist wie eine Schachpartie. Vorher wurde ausgelost, wer die schwarzen und wer die weißen Figuren spielt. Die Verteilung ist kaum mehr als Zufall.« Er atmete tief ein. »Erinnerst du dich noch, um was ich dich bei unserem ersten Treffen gebeten habe? Du solltest darüber nachdenken, auf welcher Seite die Guten und auf welcher die Bösen stehen.«
Carsten schwieg.
»Zu welcher Entscheidung bist du gekommen?«
»Allein die Frage ist pathetischer Blödsinn.«
Fenn beugte sich vor. »Es gibt keine Antwort. Du hast selbst gesehen, mit welchen Mitteln die andere Seite arbeitet. Gleichzeitig verachtest du mich, weil ich deinen Freund getötet habe. Trotzdem greifst du mich nicht an. Du hegst keine Mordgedanken mehr, oder?«
Widerwillig schüttelte Carsten den Kopf.
Fenn blickte wieder hinaus in die Nacht. »Letztlich können wir nur verlieren.«
Carsten lehnte sich gegen eine der Scheiben. Das Glas war eiskalt. »Und das alles wegen ein paar Dokumenten. Sie sind unten, unter der Falltür, nicht wahr?«
»Ja. Aber es sind nicht nur ein paar Dokumente. Es geht um eine ganze Bibliothek von Akten. Der Kellerraum ist vollgestopft damit. Ohne sie können wir hier nicht weg.«
»Eure Akten interessieren mich einen Scheißdreck.«
»Natürlich. Du spielst deine Rolle, ich spiele meine. Du hast Angst um dein Leben und vielleicht um das deiner Freundin, ich kämpfe für einen Berg von Papier.« Er lächelte matt. »Ich fürchte, ich bin Bürokrat geworden.«
Carsten drehte sich um und ging zur Treppe.
Fenn rief ihm hinterher. »Eine oder zwei Wochen sind wir hier sicher. Dann werden Nawatzkis Männer den richtigen Personen die richtigen Fragen stellen. Ich hoffe, ihr bleibt so lange bei uns. Die Wälder sind groß und sehr einsam. Wir werden euch nicht folgen, wenn ihr wegwollt. Nawatzki wird euch irgendwo dort draußen erwarten.«
Carsten stieg die Stufen hinunter. Nina saß mit angezogenen Knien auf einem Schlafsack und sah ihn an.
»Du magst ihn, nicht wahr?«, sagte sie.
»Er hat Sebastian ermordet.«
Sie schüttelte langsam den Kopf und streckte sich auf der Matte aus. »Als ob das noch etwas zu bedeuten hätte.«
Darauf wusste er keine Antwort.
Am Morgen führte Sandra ihn entlang der Betonpfeiler zum Waldrand. Im Schatten der Bäume setzten sie sich auf einen Steinbrocken und blickten über die Schlucht und die endlosen Fichtenwälder.
Der Abgrund war größer, als er in der Nacht angenommen hatte. Die Wände der Schlucht fielen steil und zerklüftet nach unten ab, zwanzig, dreißig Meter tief. Ihr Grund war wie die umliegenden Berge und Täler dicht mit Bäumen bewachsen. Es gab dort unten nicht so viele wie auf den Hängen und Hügelkuppen, die Fichten waren hier kleiner und dünner. Trotzdem wirkten sie von oben wie ein dichter, dunkler Teppich. Ein paar Greifvögel zogen majestätisch ihre Bahnen am Himmel und stießen dann und wann hinab in die Tiefe, wenn sie am Grund der Kluft eine Maus oder ein kleines Kaninchen erspähten.
»Warum haben die Grenzposten das Gebiet nicht roden lassen?«, fragte er. »Es muss schwer gewesen sein, Flüchtlinge dort unten zu entdecken.«
Sandra schüttelte den Kopf. »Glaub mir, sie hätten es bemerkt.«
Er sah sie verständnislos an.
Sie lächelte. »Spätestens nach der ersten Explosion.«
»Die Schlucht war vermint?«
»Sicher. Sie ist es immer noch. Wenn du ein Stück am Rand entlanggehst, wirst du gelegentlich auf Warnschilder stoßen. Aber sie sind überflüssig. Niemand verirrt sich hierher.«
»Wie kommt es, dass die Minen während der vergangenen drei Jahre nicht entfernt wurden?«, fragte er erstaunt.
»Werden sie, früher oder später. Der ganze Harz ist noch voll davon, auch andere Teile der ehemaligen Grenze. Die Arbeiten ziehen sich hin. Dieses Stück ist in zwei bis drei Jahren an der Reihe.«
»Nawatzkis Leute können
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