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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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warum Ihnen gerade an ihm so viel liegt?«
    »Sie wissen, wie dringend wir im Osten gute Leute brauchen.«
    »Sicher. Aber es gibt andere.«
    »Das klingt nicht nach enger Freundschaft.« Wieder Nawatzki.
    Martin funkelte ihn mit einem Anflug von Zorn an. »Sie wissen sehr gut, was ich meine, Dr. Nawatzki. Ich würde mich freuen, wenn Herr Worthmann Ihr Angebot annimmt, aber letztlich ist es alleine seine Entscheidung. Und für diesen Fall sind da eine ganze Menge anderer arbeitsloser Journalisten, die sich freuen würden, wenn …«
    »Das wissen wir«, unterbrach von Heiden ihn mit schlichtem Lächeln. »Und natürlich haben Sie vollkommen recht. Wenn Herr Worthmann nicht erkennt, was gut für ihn ist, werden wir uns an jemand anderen wenden. Aber bis dahin würde es mich freuen, wenn Sie Ihr Möglichstes täten, ihn zu überzeugen. Er ist ein sympathischer junger Mann mit nicht zu verachtendem Talent. Wie geschaffen für unseren Verlag, meinen Sie nicht?«
    Martin zwang sich, das Lächeln zu erwidern. »Doch, sicherlich.«
    »Na, sehen Sie. Wir können uns also auf Ihre Unterstützung verlassen?«
    Martin wollte raus hier, endlich nach Hause. Er würde ihnen alles versprechen, nur damit sie endlich den Mund hielten. »Nicht verlassen, aber mit ihr rechnen«, sagte er deshalb und lächelte ein weiteres Mal. »Versprechen kann ich Ihnen seine Zusage nicht.«
    »Sehr schön«, sagte von Heiden, stand auf und führte ihn zur Tür. Nawatzki blickte ihnen ausdruckslos hinterher. Hinter ihm schimmerten die Lichter der Stadt wie Diamanten auf schwarzem Samt.
    Martin fuhr allein mit dem Lift nach unten. Das Haus war wie ausgestorben. Er holte seinen Wagen aus der Tiefgarage und bog auf die mehrspurige Straße vor dem Verlagsgebäude. Einer plötzlichen Eingebung folgend, wendete er an der nächsten Ampel und fuhr zurück. Gegenüber dem Haupteingang hielt er an und öffnete das Schiebedach. Er sah an der dunklen Fassade hinauf und fand die riesige Glaswand am Büro des Verlagsleiters. Eine Viertelstunde lang wartete er darauf, dass das Licht ausging. Es brannte weiter. Schließlich zündete er mit einem Fluchen den Motor und fuhr davon. Seine Unruhe legte sich erst, als Frank ihn zu Hause im Bett erwartete und säuselte, er habe keine Lust mehr auf portugiesisches Essen.

Kapitel 4
    Am Mittwochabend ging Michaelis mit Carsten in ein kleines Restaurant in der Altstadt. Es lag im Keller eines historischen Gebäudes und roch auf angenehme Art nach Alter und Wein. Schwarze Holzbohlen trugen die Gewölbedecke, und in die Tischplatten hatten bereits im vorigen Jahrhundert Gäste ihre Initialen gekratzt. Nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, stellte Carsten eine Frage, die ihm schon lange auf den Zunge brannte. »Was hat es mit dem Gebäude auf sich, in dem die Redaktion untergebracht ist?«
    »Eine ziemliche Bruchbude, was?«
    »Sieht so aus.«
    Michaelis lachte leise. »Der Verlag hat es billig erstanden, mit der Auflage, es vollständig zu renovieren. Innerhalb der nächsten fünf Jahre.«
    »Mit anderen Worten …«
    »… wir werden noch eine ganze Weile in der Angst leben müssen, dass uns der Kasten eines Tages um die Ohren fliegt, aus Altersschwäche oder wegen einer undichten Gasleitung. Nina nimmt schon Wetten entgegen.«
    »So schlimm?«
    Michaelis wollte etwas sagen, als der Kellner ihren Wein an den Tisch brachte. Sie stießen an.
    »Rund achtzig Prozent des Gebäudes sind einsturzgefährdet«, erklärte der Redaktionsleiter. »Sie haben ja die Absperrungen gesehen. Die stammen nicht von uns, sondern vom Bauaufsichtsamt. Die ganze Angelegenheit macht die Damen und Herren dort ziemlich nervös.«
    »Und vor der Wende? Stand das Haus leer?«
    Michaelis holte mit einer Handbewegung weit aus. »Ich habe damals, als ich herkam, versucht, ein wenig mehr über seine Geschichte zu erfahren. Was ziemlich aussichtslos war, angesichts der Zustände, die zu diesem Zeitpunkt im hiesigen Grundbucharchiv herrschten. Schließlich konnten ein paar Leute im Rathaus mir mehr dazu sagen. Und man schnappt natürlich auch einiges an Orten wie diesem auf.« Er deutete mit einem Kopfnicken zum vorderen Teil der Gaststätte, wo eine Hand voll alter Männer sich um einen Tresen scharte.
    »Erbaut wurde es offenbar gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts«, fuhr er fort. Carsten hatte sich demnach um volle hundert Jahre verschätzt. »Von wem und zu welchem Zweck weiß keiner mehr so genau, höchstwahrscheinlich jedoch als
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