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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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breiter Gang, mit tiefhängender Gewölbedecke. An beiden Seiten waren Reihen schmaler Gittertüren ins feuchte Mauerwerk eingelassen.
    »Das ist der Zellentrakt, von dem ich sprach«, erklärte Michaelis. »Hier wurden die hoffnungslosen Fälle eingesperrt.« Sie gingen an winzigen Einzelzellen vorüber. In einigen standen noch die Reste alter Pritschen.
    »Warum wurden die nie ausgeräumt?«
    »Ich hab keine Ahnung«, erwiderte Michaelis. »Möglicherweise wurden diese Räume während des Krieges noch benutzt – für was auch immer – und gerieten danach in Vergessenheit. Zumindest kümmerte sich niemand mehr darum.«
    Sie erreichten ein zweites Eisentor. Es war geschlossen, aber Michaelis zog es mit einer kräftigen Handbewegung auf. Die rostigen Scharniere kreischten. Dahinter lag ein größerer, vollkommen leerstehender Raum, an den sich ein weiterer Korridor anschloss. Es war kalt hier unten.
    »Spüren Sie den Luftzug?«, fragte der Redaktionsleiter.
    Carsten nickte.
    »Der kommt von weit her. Wahrscheinlich ist Ihnen aufgefallen, dass der gesamte Komplex an die Stadtmauer grenzt.«
    »Sicher.«
    »Früher war es üblich, die Gebäude am Stadtrand durch ein unterirdisches System von Gängen zu verbinden, sodass selbst bei einem Eindringen der Feinde in die Stadtmauern noch Wege zu den Toren offenstanden. Es ist anzunehmen, dass für diesen Palast eine ganze Reihe mittelalterlicher Anlagen weichen mussten. Nur den Anschluss an die Fluchtschächte hat man beibehalten. Der leichte Zug, den Sie spüren, ist der Wind, der durch dieses System zirkuliert. Unglaublich, dass nach all den Jahrhunderten immer noch Verbindungen bestehen.«
    »Sie meinen, man könnte auch heute noch die ganze Stadt umrunden, ohne ein einziges Mal ans Tageslicht zu kommen?«, fragte Carsten ungläubig.
    Michaelis schüttelte den Kopf. »Nein. Viele Hausbesitzer haben die Zugänge in ihren Kellern vermauert. Aus naheliegenden Gründen. Aber viele der alten Lüftungsschächte scheinen noch offen zu sein. Für einen Menschen sind sie zu eng, höchstens Tiere passen da hindurch.«
    »Ratten?«
    »Natürlich. Es muss hier unten wimmeln von den Viechern.«
    Carsten schluckte. »Vielleicht sollten wir lieber wieder nach oben gehen.«
    »Gleich. Eines möchte ich Ihnen noch zeigen. Es wird Sie interessieren.«
    »Die Folterkammer?«
    Michaelis lachte. Es klang seltsam verzerrt in den alten Gängen. »Das wäre stilecht, nicht wahr? Aber keine Sorge, so etwas gibt's hier nicht. Zumindest habe ich noch keine gefunden.«
    »Sie sind wohl oft hier unten?«
    »Das letzte Mal liegt fast zwei Jahre zurück.«
    Zwei Abzweigungen weiter hielt Michaelis an und deutete in eine Öffnung. Dahinter lag eine weitere Treppe.
    »Noch tiefer?«, fragte Carsten.
    »Ein zweiter Keller. Längst nicht so groß wie dieser hier, aber mit stärkeren Mauern. Mag sein, dass er früher als Weinlager oder Vorratskammer genutzt wurde. Interessanter ist aber, was im letzten Krieg damit geschah.«
    Michaelis ging wieder voran. Als er den Schein der Lampe hinunter ins Dunkel richtete, schloss sich hinter ihnen die Finsternis wie ein wabernder Vorhang.
    »Während des Krieges wurden Teile des unteren Kellers als Bunker genutzt«, sagte er. »Wahrscheinlich verkrochen sich die Ärzte und das Pflegepersonal bei Angriffen der Alliierten hier unten.«
    Sie kamen in einen niedrigen Raum, etwa fünf mal fünf Meter im Quadrat. »Sehen Sie …« Michaelis ließ den Schein der Lampe über die Wände geistern. »Um bei längeren Aufenthalten hier unten vor Kälte und Feuchtigkeit geschützt zu sein, wurden die Wände vollständig mit mehreren Lagen aus Zeitungspapier beklebt. Später kümmerte sich niemand mehr darum. Das Papier blieb an den Mauern, bis es von selbst zerfiel.«
    Carsten brauchte einige Sekunden, bis er begriff, was Michaelis meinte. Tatsächlich war das Papier längst verschwunden; nicht aber die alte Druckerschwärze, die sich über die Jahre hinweg tief ins Gestein gefressen hatte. Der gesamte Raum – Wände, Boden und Decke – war bedeckt mit einem bizarren Muster aus engmaschigen Schriftzeichen, spiegelverkehrten Abdrücken der alten Artikel und Schlagzeilen. Carsten versuchte, einige der Überschriften zu entziffern. Da war die Rede von siegreichen Schlachten in Frankreich und Russland, Neuigkeiten von Rommels Afrikafeldzug, Erfolgsmeldungen über Wunderwaffen und weitere Jubeltaten.
    Michaelis trat neben ihn und lächelte wie ein stolzer Vater, der seinen
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