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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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Jagdpalast eines Adeligen. Die Stadt gab es damals schon lange, und viel hat sich seitdem nicht verändert. Allerdings wurden im Laufe der Jahrhunderte einige bauliche Veränderungen an dem Gebäude vorgenommen. Was ursprünglich einmal gotisch war, wurde mit Elementen des Jugendstils und anderen Richtungen verbunden. Sie haben wahrscheinlich die Reste der Stuckornamente gesehen.«
    Carsten nickte.
    »Irgendwann im letzten Jahrhundert wurde der Palast dann zweckentfremdet.«
    »Inwiefern?«
    »Ein privater Gönner erwarb das Anwesen und stellte es einigen Ärzten zur Verfügung. Die machten daraus eine Nervenklinik, eine riesige Klapsmühle. Sie blieb bis weit in unser Jahrhundert bestehen. Noch heute können sie in den leerstehenden Teilen des Hauses die alten Behandlungsräume erkennen. Unten in den Kellern gibt es noch Reste des alten Zellentrakts.«
    Michaelis nickte und lächelte dabei. »Alte Häuser faszinieren mich«, erklärte er knapp. »Wenn es Sie interessiert, kann ich Sie bei Gelegenheit herumführen.«
    Ein Schauer kroch über Carstens Rücken. »Natürlich.«
    »Sofort?«
    »Sie meinen heute?«, fragte er verblüfft.
    »Ich meine nach dem Essen.«
    »Warum nicht?«
    »Abgemacht.«
    Später fuhren sie zurück zur Redaktion und parkten auf dem Vorplatz. Das Rauschen des Springbrunnens mischte sich mit dem Säuseln des Windes, der aus den dunklen Wäldern hinab ins Tal wehte. Carsten fröstelte.
    Michaelis klopfte, und der Wachmann ließ sie ein. Die Rezeption war durchgehend besetzt. Aus einem tragbaren Radiorecorder drang leise Musik.
    »Sie wollen so spät noch arbeiten?«, fragte der alte Mann. Es war derselbe wie bei Carstens Ankunft. W. Steinberg stand auf einer Namensplakette an seiner Brust.
    Michaelis schüttelte den Kopf und bat ihn um eine Taschenlampe. Der Wachmann grinste, bückte sich und kramte eine schwere Stablampe hinter seiner Theke hervor. Michaelis nahm sie dankend entgegen.
    »Passen Sie auf Ihren Kopf auf«, rief Steinberg ihnen hinterher, als sie über die Absperrung stiegen. Zwei Lausbuben, die bei Nacht und Nebel das große Abenteuer suchten. Und macht euch die Hosen nicht schmutzig, fügte Carsten in Gedanken hinzu.
    »Lieber nach oben oder unten?«, fragte Michaelis, als sie vor der vernagelten Freitreppe in die oberen Etagen standen.
    »Ist mir gleich.«
    »Dann zeige ich Ihnen erst die Keller. Ist ziemlich unheimlich dort unten.«
    Er trat an der Treppe vorbei und bog ab in einen Korridor, der im hinteren Teil der Halle nach rechts führte. Der Wachmann verschwand hinter der Abzweigung, und auch das Licht des Eingangs blieb hinter ihnen zurück. Offenbar hatte man auch die Stromzufuhr der stillgelegten Gebäudeteile abgeklemmt. Der Strahl der Taschenlampe stach vor ihnen in die Dunkelheit. Ihre Füße wirbelten Staubwolken auf, die Luft roch abgestanden. Das Mauerwerk war feucht, an manchen Stellen schillerten farblose Pilzkulturen.
    »Wie gefährlich ist es, hier herumzulaufen?«, fragte Carsten.
    »Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn ich befürchten würde, dass uns die oberen Stockwerke auf den Schädel krachen, wären wir nicht hier. Die meisten Teile des Komplexes scheinen noch stabil zu sein. Nur vom Westflügel sollten wir die Finger lassen. Vor ein paar Monaten ist dort eine Decke runtergekommen. Die Baubehörden haben Warntafeln angebracht. Lebensgefahr! Ich weiß nicht, ob es wirklich so dramatisch ist, aber wir sollten es nicht darauf ankommen lassen.«
    Der Korridor knickte um eine Ecke. Rechts und links führten offene Türen in leere Zimmer. Sie erreichten eine zweite, schmalere Treppe. Die Stufen führten in die Tiefe.
    Michaelis ging voran und beleuchtete mit der Taschenlampe die steinernen Absätze. Die Treppe schraubte sich in engen Windungen hinab ins Dunkel. Sie folgten ihr, bis sie auf einen weiteren Korridor stießen. Die Farbe war längst von den nackten Wänden geblättert, und das Licht des Strahlers fiel gelegentlich auf kleine Schutthaufen. Hin und wieder huschte etwas in der Finsternis.
    »Wohin gehen wir?«, fragte Carsten. Zu seiner eigenen Überraschung bemerkte er, dass er die Worte geflüstert hatte.
    »Ich möchte Ihnen zwei Dinge zeigen«, erwiderte Michaelis. Seine Stimme verklang irgendwo in den fernen Kammern und Gängen. »Nummer eins ist gleich hier vorne.«
    Der Korridor knickte in scharfem Winkel nach rechts. Nach wenigen Schritten stießen sie auf ein hohes Eisentor. Es stand weit offen. Dahinter befand sich ein nahezu doppelt so
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