Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
noch auf die Käfige blickte, öffnete sich im Erdgeschoss, gleich daneben, ein dunkles Fenster. Das Gesicht eines kleinen Jungen erschien. Obwohl er im Trockenen stand, klebte sein Haar ebenso strähnig am Kopf wie sein eigenes.
    »Da waren meine Kaninchen drin«, flüsterte der Kleine und sah ihn dabei aus traurigen Augen an. Carsten schätzte ihn auf höchstens zehn. »Die Ratten haben sie geholt.«
    Carsten trat auf ihn zu. Er war mittlerweile durchnässt bis auf die Haut. Aus der Nähe wirkte der Kleine noch schmuddeliger. Er sah müde aus.
    »Ratten?«
    »Ja«, sagte der Junge. »Der ganze Hof ist voll davon. Sie leben unter dem Müllberg.« Er zeigte mit seiner kleinen Hand auf die Abfälle.
    Jetzt, da er direkt vor den Käfigen stand, sah Carsten, dass der Draht an vielen Stellen offen war, wie zerrissen oder durchgenagt.
    »Sie haben meine Kaninchen geholt, eines nach dem anderen. Meine Mama sagt, irgendwann holen sie auch uns, wenn keiner den Dreck wegräumt.«
    Carsten sah ihn noch fassungslos an, als mit einem Mal das Licht im Zimmer des Jungen aufflammte. Eine Gestalt tauchte hinter ihm auf, legte eine Hand auf seine schmale Schulter und riss ihn grob zurück. Der Kleine keuchte auf und verschwand. Stattdessen erschien jetzt das bleiche Gesicht einer Frau, warf Carsten wortlos einen misstrauischen Blick zu und zog sich wieder zurück. Mit einem Scheppern wurde das Fenster zugeschlagen. Der Junge begann zu weinen.
    Mit einem letzten Blick auf die zerfetzten Käfige wandte Carsten sich ab und lief mit eiligen Schritten zurück zum Auto.
    Die Handwerker klingelten ihn kurz nach sechs aus dem Bett, aber da war er schon seit einer Stunde wach. Um fünf hatte jemand unten auf der Straße damit begonnen, den Motor eines uralten Citroën zu reparieren. In Abständen von wenigen Minuten startete er mit kreischenden Reifen und durchgetretenem Gas zu Probetouren rund um den Block. Carsten war erst gegen Mitternacht in Tiefental angekommen und hatte weitere zwei Stunden gebraucht, um endlich einzuschlafen.
    Von Heiden hatte Wort gehalten. Die Handwerker kamen, um die Wohnung von Grund auf zu renovieren; vier Männer vollgepackt mit Farbtöpfen, Tapetenrollen und Werkzeugen. Man hatte ihn nicht gefragt, wie die Wohnung aussehen sollte, doch als er sah, dass es sich um schlichte Raufaser und weiße Farbe handelte, war er zufrieden. Die Männer erklärten ihm, man habe grauen Velourteppich geordert, und auch damit war er einverstanden. In seiner Verfassung wäre ihm auch Sackleinen recht gewesen.
    Er wusch sich, während sie die Räume ausmaßen, zog sich an und verschwand. Alles was er im Augenblick wollte, war seine Ruhe.
    Es war warm, selbst um diese frühe Uhrzeit, und Carsten lenkte den Golf zum Parkplatz am Waldrand. Von dort aus ging er das letzte Stück zu Fuß, bis er die verfallene Burgruine erreichte. Sie lag verlassen da im verzauberten Licht des Frühlingsmorgens. Carsten kletterte zwischen den Felsen umher, bis er eine grasbewachsene Mulde fand, in der er sich langlegte und mit Blick auf den strahlend blauen Himmel einschlief.
    Gegen neun erwachte er zum zweiten Mal. Über den Felsrand hinweg sah er nichts als die Weite des Himmels und das endlose Meer der Baumwipfel. Die Luft, die aus den Wäldern hinauf zur Ruine stieg, roch würzig nach dem Duft grüner Fichtennadeln. Unzählige Vögel zwitscherten in den Ästen. Über ihm jagten sich zwei Bussarde.
    Er brauchte eine Weile, bis er wieder sicher am Boden war, und wunderte sich, wie er im Halbschlaf heil die Felsen hinaufgekommen war. Zwanzig Minuten später parkte er den Golf auf dem Platz vor der Redaktion.
    Steinberg, der alte Pförtner, saß am Eingang.
    »Schon so früh auf den Beinen?«, fragte er.
    »Leider.« Carsten starrte neidisch auf die gluckernde Kaffeemaschine hinter der Rezeption.
    Steinberg bemerkte es und lächelte. »Wenn Sie noch eine Minute Geduld haben, bekommen Sie eine Tasse.«
    »Wäre toll.«
    »Wie gefällt's Ihnen bisher bei uns?«
    »Gut«, sagte Carsten vage. Tatsächlich hatte er daran noch nicht einen Gedanken verschwendet.
    Wieder lächelte Steinberg, als könnte er seine Gedanken lesen. Er hatte etwas Großväterliches, ohne dabei aufdringlich oder anbiedernd zu sein. Carsten beschloss, ihn zu mögen.
    Der Pförtner nahm die Kaffeekanne aus der Maschine und füllte zwei Tassen.
    »Milch und Zucker?«
    »Nein, danke.«
    Steinberg deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Absperrung. »Die Keller des Hauses sind

Weitere Kostenlose Bücher