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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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lachte. »Sie wissen es wirklich nicht? Man hat Ihnen nichts davon erzählt?«
    »Von was?«
    Viktor schüttelte sanft den Kopf, wie jemand, der die dumme Frage eines Kindes beantwortete. »Nun, bevor Ihre Zeitung dort einzog, saß in dem Gebäude jemand anderes.«
    »Eine Nervenklinik, hat man mir gesagt. Und ich ging davon aus, dass der Klassenkämpfer dort bereits seinen Sitz hatte.«
    »O nein, mein Junge. Das Erste, was Sie sagen, ist richtig. Die Klinik war jahrzehntelang in dem Haus untergebracht, bis kurz nach dem Krieg. Danach wechselten die Mieter.« Er machte eine Pause, seine Geheimnistuerei schien ihm Freude zu bereiten. Dann, endlich, rückte er mit der Sprache heraus. »Anfang der fünfziger Jahre bezog die Staatssicherheit dort ihr Quartier.«
    Carsten war überrascht. Das hatte Michaelis ihm verschwiegen. »Eine Zweigstelle des Mfs bezog einen Teil des Erdgeschosses«, fuhr Viktor fort. »Jenen, in dem heute Ihre Büros liegen. Den Rest der Anlage ließ man verfallen. Die Baustruktur ist, wie Sie sich denken können, nicht mehr die beste.«
    Carsten hatte interessiert zugehört. Trotzdem war es an der Zeit, zurück auf den Punkt zu kommen.
    »Mögen Sie kein Tageslicht?«, fragte er, in Anspielung auf die Vorhänge und das gedämpfte Licht.
    Viktor schmunzelte. »Ich mag die Dunkelheit. Selbst beim Malen bevorzuge ich den Schatten. Wie gesagt, das komplette Bild ist bereits vor dem ersten Farbtupfer hier oben drin.«
    Carsten erinnerte sich an das, was Michaelis gesagt hatte; darüber, dass der alte Maler angeblich verrückt sei. Bisher hatte er keinen Beweis dafür gefunden. Eigenartig und kauzig, vielleicht, aber nicht irre. Selbst das, was Viktor über die Dunkelheit sagte, schien hier drinnen wie vollkommene Normalität. Vielleicht war das der Tribut, den das einsame Leben in einem solchen Haus forderte.
    Plötzlich stand der Maler auf. »Wir haben uns unterhalten, und ich habe Ihre Fragen beantwortet. Ich möchte Sie jetzt bitten, mich zu verlassen.«
    »Darf ich wiederkommen?«, fragte Carsten. Das Gespräch, wie er es sich vorgestellt hatte, hatte nicht einmal wirklich begonnen.
    »Ich denke nicht, dass das nötig sein wird. Es gibt keine weiteren Fragen. Nicht im Augenblick.«
    »Und später?«
    Der Maler hob die Schultern. »Wir werden sehen. Bitte gehen Sie jetzt.«
    Carsten folgte ihm zur Tür und verabschiedete sich. Als er draußen die Stufen hinabstieg, horchte er auf Viktors Schritte im Korridor. Er hörte keine. Der alte Mann stand hinter der verschlossenen Tür und wartete, bis er davonfuhr.
    Carsten brauchte fast zwei Stunden, ehe er die Stadtgrenze von Leipzig passierte, und dann weitere dreißig Minuten, bis er die richtige Straße fand. Trotz des Stadtplans, den er an einer Tankstelle gekauft hatte, war das verworrene Netz aus Einbahnstraßen, Ringen und vorübergehenden Sperrungen ein Labyrinth, dessen Zentrum er erst beim dritten Anlauf erreichte. Seine Uhr zeigte kurz vor halb neun, es begann zu regnen. Carsten fuhr einmal um den Häuserblock und suchte den Eingang mit Sandras Hausnummer. Die Regentropfen trommelten auf dem Wagendach einen infernalischen Begrüßungstusch. Die Nummern verschwammen hinter den Wassermassen zu formlosen Schemen.
    Der gesamte Block bestand aus einem einzigen Gebäudekomplex, ein riesiges Quadrat von der Größe eines Fußballfeldes. Die dunkle, fünfstöckige Backsteinfassade wurde alle zehn Meter von Hauseingängen durchbrochen. Hinter den alten Mauern mussten Hunderte von Menschen leben.
    Als ihm klar wurde, dass er bei diesem Wetter vom Auto aus niemals den richtigen Eingang finden würde, stellte er den Wagen am Bordstein ab und machte sich zu Fuß auf die Suche. Innerhalb von zwei Minuten war sein Mantel durchtränkt, und das Haar klebte in nassen Strähnen an seinem Kopf. Nach all den Jahren würde er bei ihrem Wiedersehen einen prächtigen Anblick bieten.
    Die Nummer sieben war ein Eingang wie jeder andere, unbeleuchtet und in der Abenddämmerung kaum mehr als ein finsteres Rechteck. Carsten wischte sich das Wasser aus den Augen und überflog ein Dutzend Klingelschilder. Jenes, welches er suchte, war das zweite von oben. Kirchhoff, S. & S.
    Er zögerte einen Augenblick, ehe er auf den Knopf drückte. Sein Magen rumorte, als hätte er seit Tagen nichts gegessen, und seine Knie fühlten sich an wie die zittrigen Gelenke einer Marionette. Er sah wieder das Gesicht der vierzehnjährigen Sandra vor sich, erinnerte sich, wie fest sich ihr Körper

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