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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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angefühlt hatte, der Druck ihrer schmalen Schenkel um seine Hüften, die Intensität ihrer Küsse. Verliebt, verlobt, verheiratet, von wegen.
    Zwei Minuten lang wartete er vergeblich auf das Summen des Türöffners. Dann trat er einige Schritte zurück in den Regen und blickte an der Fassade hinauf. Es war unmöglich, der Klingel eines der unzähligen Fenster zuzuordnen. Manche waren erleuchtet, andere stockfinster.
    Er schellte ein zweites Mal und hörte weder ein Klingeln noch das Brummen der elektronischen Kontakte. Vielleicht ein Defekt. Vielleicht waren Sandra und ihr Mann auch ausgegangen.
    Diesmal wartete er noch länger, klingelte schließlich ein drittes und viertes Mal. Nichts. Niemand öffnete. Keiner zu Hause. Und wenn die Klingel abgestellt war? Sicher konnte er erst sein, wenn er an der Wohnungstür geklopft hatte.
    Kurz spielte er mit dem Gedanken, irgendeinen anderen Knopf zu drücken. Aber wer würde ihn, einen Fremden, einfach so einlassen? Er musste eine andere Möglichkeit finden.
    Bei seiner Fahrt um den Block hatte er ein Hoftor gesehen, ein einziges für den gesamten Komplex. Falls er sich nicht getäuscht hatte, war es offen.
    Er lief durch den strömenden Regen zurück zum Wagen und fuhr los. Weder Passanten noch andere Fahrzeuge waren zu sehen. Wasser und Dunkelheit trugen ihn wie auf einer finsteren Wolke durch ein Niemandsland der Schatten.
    Das Tor lag gleich hinter der zweiten Ecke. Er parkte und stieg aus. Im Durchgang, der zum Hof führte, blieb er stehen und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, hierherzukommen. Es waren nicht allein die Jahre, die ihn von all dem hier trennten.
    Es gab keine Lampe in dem Durchgang, und er war froh, als der dunkle Tunnel ihn hinaus auf den Innenhof spie. Vor ihm öffnete sich ein weites Karree. Carsten hatte eine Rasenfläche erwartet, doch stattdessen war die Fläche mit holprigem Pflaster bedeckt. Allein das Licht, das aus einigen Fenstern fiel, schuf Inseln karger Helligkeit. Ihr Schein vermischte sich mit dem Regenwasser zu glitzernden Pfützen. An einer Seite des Hofes standen eine Hand voll Spielgeräte für Kinder: eine alte Rutschbahn, ein verzogenes Klettergerüst, eine rostige Schaukel mit morschen Stricken. Ihnen gegenüber lag ein gewaltiger Berg aus prall gefüllten Mülltüten. Viele waren geplatzt, ihr Inhalt quoll hervor wie Innereien. Teile der Abfälle waren über den ganzen Hof verteilt. Trotz des Regens stank es bestialisch. Keine Menschenseele war zu sehen, nur hinter einigen Fenstern registrierte er zuckende Schatten.
    Zögernd überquerte er den Hof und suchte an der gegenüberliegenden Gebäudeseite einen Eingang. Er fand eine unverschlossene Hintertür, dort, wo er die richtige Hausnummer vermutete, und trat in ein dunkles Treppenhaus. Nach einigem Suchen fand er an der Wand einen Drehschalter. Als er ihn betätigte, wurden die Stufen in trübes Licht getaucht. Er ging zur Haustür und drückte die Klinke hinunter. Abgeschlossen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Namen an jeder Tür zu lesen, um den richtigen zu finden.
    Im dritten Stock wurde er fündig. Ein vergilbtes Schild mit brüchiger Plastikoberfläche trug Sandras Familiennamen. Es gab keine Fußmatte, das Metall des Türknaufs war dunkel angelaufen. Carsten klingelte erneut. Es blieb still. Kein Rascheln, keine Schritte. Er klopfte. Keine Antwort. Dann gab er auf. Sandra war nicht zu Hause. Er war umsonst hergekommen.
    Enttäuscht und ärgerlich stieg er die Treppen hinunter und kam im Erdgeschoss an den Briefkästen vorbei. Vor dem mit der Aufschrift Kirchhoff blieb er stehen, öffnete die Klappe und sah so weit wie möglich hinein. Auf seinem Grund schimmerte etwas. Ein weißer Umschlag. Angetrieben von einer ungewissen Ahnung fingerte er danach; an der scharfen Metallkante schnitt er sich ins Fleisch des Mittelfingers. Er erreichte den Umschlag und zog ihn hervor. Es war sein eigener Brief, den er vor dem Abflug eingeworfen hatte. Sandra wusste also noch gar nichts von seiner Anwesenheit im Osten.
    Er warf den Umschlag zurück und trat durch die Hintertür hinaus auf den Hof. Das Prasseln des Regens auf dem Pflaster klang wie das Trappeln winziger Füße. Kurz vor dem Durchgang zur Straße fiel sein Blick auf ein Paar kleine Käfige, die man in drei Reihen an der Hauswand übereinandergestapelt hatte; insgesamt ein Dutzend. Sie waren mit engem Maschendraht bespannt. Alle waren leer.
    Während er

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