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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Ego auf hundertachtzig; er gönnte sich die Genugtuung, an der Seite eines solchen Mädchens gesehen zu werden.
    Eine junge Vietnamesin brachte ihnen die Karten und stellte zwei Gläser mit Pflaumenwein auf ihren Tisch.
    »Möchten Sie schon bestellen?«, fragte sie mit starkem Akzent. Sie sahen sich an und nickten. Beide nahmen Ente.
    »Stammst du hier aus Tiefental?«, fragte er, nachdem die Kellnerin gegangen war.
    Nina antwortete mit einem Nicken. Auf ihrem Tisch stand die Figur eines goldenen Drachen, aus dessen Kopf eine Kerze wuchs. Die Flamme reflektierte in Ninas Augen; es sah aus, als leuchteten sie von innen heraus. Als sie lächelte, bemerkte er erstmals, wie klein ihre schneeweißen Zähne waren.
    Er stützte die Ellbogen auf die Tischkante und verschränkte die Finger vorm Kinn. »Ich habe gehofft, ich könnte dich ein wenig über die anderen Redakteure aushorchen.«
    »Ich dachte, ihr Edeldeutschen bildet euch nur eure eigene Meinung?«, erwiderte sie und lächelte.
    »Tatsächlich?«
    »Aber sicher.«
    »Muss ein Missverständnis sein.«
    Sie nippte an ihrem Pflaumenwein und kippte ihn dann mit einem Mal hinunter wie ein Glas Schnaps. »Im Grunde gibt es wenig zu erzählen«, meinte sie. »Ehrlicher entspricht exakt der Meinung, die man sich auf den ersten Blick von ihm macht. Und der ganze Rest der Bande ist ein Haufen von Intriganten der mehr oder minder harmlosen Sorte. Die meisten werden nicht müde zu jammern, wie angenehm sie es doch früher hatten – nicht unbedingt in politischer Hinsicht, eher was ihre Lebensumstände betrifft. Viele gehören zu der Sorte Menschen, die sich vor der Wende Rote Beete aufs Brot gelegt haben, um andere glauben zu machen, es sei Lachs.«
    Die Vorstellung amüsierte ihn. »Michaelis scheint hier nicht allzu glücklich zu sein.«
    Sie nickte. »Er redet oft davon, wieder in den Westen zu gehen, aber das tut er schon, seit er hierhergekommen ist. Einige der einheimischen Redakteure nehmen ihm das ziemlich übel.«
    »Sebastian auch?«
    »Nein, dem sind die anderen egal. Und, ehrlich gesagt, mir geht's genauso.«
    »Womit habe dann ich eure Aufmerksamkeit verdient?«
    Sie winkte ab, scheinbar gelangweilt. »Oh, das geht vorbei. Das ist nur die Lust am Neuen.«
    »Vielen Dank.«
    Sie kicherte. »Nein, im Ernst: Du bist nett. Du bezahlst mein Essen.« Noch ein Kichern.
    Als hätten sie auf das Stichwort gewartet, erschienen in diesem Augenblick die Kellnerin und einer ihrer Kollegen und brachten dampfende Platten mit Fleisch, Gemüse, Reis und Soßen. Eine Weile lang waren Carsten und Nina damit beschäftigt, herauszufinden, wer welches Gericht bestellt hatte, dann füllten sie sich die Teller.
    »Michaelis sagte, du warst früher Kindergärtnerin.«
    Sie nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Nicht ganz. Ich habe eine Ausbildung im Kinderhort gemacht, bis vor drei Jahren. Dann wurde der Laden geschlossen, und ich bewarb mich bei Michaelis als Sekretärin. Es gab eine ganze Reihe von Bewerberinnen, gelernte Schreibkräfte, aber ich trug den kürzesten Rock.«
    »Du bist ziemlich ehrlich.«
    »Ist das ein Problem?«
    »Wofür?«
    »Na, für dich?«
    »Sollte es das?«
    »Besser nicht.«
    »Na, also.«
    Beide lächelten.
    »Und du?«, fragte sie. »Was hast du vorher gemacht?«
    »Das Gleiche wie heute. Journalismus. Mehr oder weniger.«
    »Bei einer Zeitung?«
    »Einige Jahre lang. Zuletzt freiberuflich – und ziemlich erfolglos.«
    »Warum hast du aufgehört? Bei der ersten Zeitung, meine ich?«
    Carsten sah nachdenklich auf seinen Teller. Da war sie also, die Frage aller Fragen. Er hatte gewusst, dass irgendjemand sie früher oder später stellen würde. Er war nicht sicher, ob dies der richtige Zeitpunkt war, sie ehrlich zu beantworten. Andererseits sprach wenig dagegen. Irgendwann würde er ohnehin davon erzählen müssen.
    »Vor etwas mehr als eineinhalb Jahren gab es einen Vorfall in Heidelberg«, begann er und trank einen Schluck von seinem Wein. »Damals waren zwei Insassen einer Haftanstalt ausgebrochen, beides U-Häftlinge, beide im Verdacht auf Terrorismus. Keine bekannten Leute, aber welche, denen Hintergrundarbeit in mehreren spektakulären Fällen vorgeworfen wurde. Den beiden gelang die Flucht, und ich bekam den Auftrag, die Eltern des einen, seine ehemaligen Nachbarn und ein paar Bekannte zu befragen. Das gehört in solchen Fällen zur Routine. Doch dann passierte etwas, das wir im ersten Augenblick auch noch für unglaubliches Glück

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