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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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folgte ihm. Der Raum war nicht groß, etwa acht Schritte lang und fünf Meter breit. Es gab keine Bänke. Vom Altar war nicht mehr geblieben als ein steinerner Quader, der leicht erhöht am Kopfende stand. Ein zweites Kreuz hing an der Wand, größer als das an der Außenseite, aber nicht weniger schlicht in Entwurf und Ausführung; das mochte der Grund sein, warum niemand es in all den Jahren gestohlen hatte. Es gab nur drei Fenster; eines hoch oben zwischen Kreuz und Altar, kreisrund und mit buntgemusterter Scheibe, die beiden anderen rechts und links in der Wand. Alle drei waren schmutzig und ließen nur einen Hauch von Helligkeit herein.
    »Früher habe ich viel Zeit hier verbracht«, erklärte Sebastian, »schon bevor Michaelis mich einstellte. Hier gibt es niemanden, der einen stört.«
    Carsten sah sich um. »Nicht besonders gemütlich, oder?«
    »Ich find's ganz in Ordnung. Im Winter ist es ein wenig kalt, ohne Heizung.«
    Langsam gewöhnten sich seine Augen an das trübe Dämmerlicht. Er entdeckte ein paar Kerzen, ein Kofferradio mit Kassettenteil, einen Stapel Bücher, sogar einen alten Ledersessel.
    Sebastian lachte, als er seinen zweifelnden Blick bemerkte. »Früher musste ich gelegentlich für kurze Zeit verschwinden. Und welcher Ort wäre ein besseres Versteck, als einer direkt unter der Nase derjenigen, die mich suchten?«
    »Dann stimmt es also?«, fragte Carsten, obwohl er längst keinen Zweifel mehr hatte. »Das Gebäude war Sitz der Staatssicherheit?«
    Sebastian nickte. »Eine Zweigstelle. Zuständig für die Stadt, und jeder hier weiß das. Wieso interessiert dich das?«
    Carsten hob die Schultern. »Michaelis hat mir die Geschichte des Hauses erzählt, aber davon hat er nichts gesagt.«
    Sebastian nickte, ohne es zu kommentieren. »Auf jeden Fall habe ich hier drinnen eine ganze Menge Zeit verbracht. Immer allein. Ich wollte nicht, dass irgendjemand davon erfährt.«
    »Weiß Michaelis oder sonst jemand aus der Redaktion davon?«
    »Keiner.«
    »Der Pförtner hat uns gesehen.«
    Sebastian grinste. »Der alte Steinberg … Der kann seinen Mund halten, besser als jeder der lieben Kollegen. Er kennt das Haus schon lange, auch diese Kapelle. Aber er weiß nicht, wo genau wir uns herumtreiben.«
    Carsten musterte ihn. »Was ist mit mir? Warum zeigst du mir das alles?«
    Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Sebastian nicht darauf antworten. Dann sagte er: »Du weißt wenig über den Osten, stimmt's? Das hier ist ein Stück davon, über das nichts in den Zeitungen und Büchern steht. Viele Leute hatten Verstecke wie dieses, viele, die ich kannte. Außerdem vertraue ich dir.« Er grinste. »Klingt pathetisch, was?«
    Ehe Carsten etwas erwidern konnte, wandte Sebastian sich um und trat ins Freie. »Gehen wir wieder zurück zu den anderen.«
    Carsten sah ihm überrascht hinterher und gab sich schließlich einen Ruck. Schmutz knirschte unter seinen Sohlen, als er ihm folgte; nachdenklich, verwirrt.
    Carsten parkte den Wagen an der Bordsteinkante und wollte aussteigen, als Nina aus dem Haus trat und sich mit kokettem Lächeln durchs offene Fenster der Beifahrertür beugte.
    »Na, junger Mann, wie wär's?«, fragte sie.
    Carsten grinste. »Zu welchen Konditionen?«
    »Sie zahlen das Essen und die Getränke. Meine Begleitung gibt's kostenlos.«
    Als sie einstieg, fiel sein Blick auf ihre langen braunen Beine. Über einem hellen Minirock trug sie das obligatorische weite Sweatshirt, diesmal in schwarz. Ihre dunklen Segeltuchschuhe hatten eine flache Ledersohle. Ihm fiel auf, dass er sie noch nie mit Absätzen gesehen hatte. Das einzig Modische an ihr waren die Ohrringe. Sie sahen aus wie geknotete Strohhalme aus Silber.
    Sie parkten am Marktplatz und gingen von dort aus ein Stück die Hauptgeschäftsstraße entlang. Einige der Läden unterschieden sich durch nichts von denen im Westen, andere hingegen waren so offensichtliche Überbleibsel der Vorwendezeit, dass es in den Augen schmerzte. Lustlos dekorierte Schaufenster, hässliche Waren und Namensschilder wirkten im Vergleich zu den Auslagen der moderneren Geschäfte wie schwarze Zahnlücken in einem sonst einwandfreien Lächeln. Sie bogen in eine schmale Seitenstraße, viel zu eng für ein Auto, und erreichten schließlich das kleine chinesische Restaurant, das zwei Tage zuvor geschlossen gewesen war.
    Ein Großteil der Tische war besetzt. Carsten registrierte die verhaltenen Blicke, die einige Männer auf Nina abschossen. Sie katapultierten sein

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