Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
beeindruckend, nicht wahr?«, sagte er in Anspielung auf Carstens nächtlichen Ausflug mit Michaelis.
    »Waren Sie auch schon unten?«, fragte Carsten.
    »Sicher. Aber das ist lange her. Damals war ich noch jung.«
    Carsten tat ahnungslos. »Stand das Gebäude damals leer?«
    Der ältere Mann schüttelte den Kopf. »O nein. Die Stasi hatte hier ihren Sitz. Aber sie kümmerte sich nicht um den Keller und die leerstehenden Trakte. Damals schlichen wir uns mit unseren Freundinnen hier rein, wenn wir allein sein wollten.« Die Erinnerung ließ ihn grinsen. »Ich würde mich nicht allzu sehr wundern, wenn die jungen Leute heutzutage das Gleiche täten.«
    »Ist das der Grund, weshalb Sie und Ihre Kollegen hier Wache stehen?«
    Steinberg lachte. »Reine Formsache. Wenn jemand es darauf anlegt, hier hereinzukommen, ist das kein Problem. Nicht in den Redaktionsteil, der ist sicher. Aber der Rest des Hauses ist so löchrig wie ein Schweizer Käse. Wer will, kann durch die Fenster einsteigen, ohne dass irgendwer was davon bemerkt. Wir könnten jede Stunde auf Patrouille gehen, doch selbst das würde nichts ändern. Würde mich nicht wundern, wenn der eine oder andere Penner längst hier drin Quartier bezogen hat. Im West- oder Nordflügel könnten die eine Jazz-Combo gründen, und wir würden sie hier vorne nicht mal hören.«
    Carsten grinste, trank seinen Kaffee aus und betrat dann die verlassene Redaktion. Er flegelte sich hinter seinen Schreibtisch und wartete, dösend in einem Sonnenstrahl. Einmal dachte er an einen finsteren Hinterhof im Regen und an Ratten, die kleine Kinder fraßen, dann trudelten nach und nach die anderen ein, und das Tageslicht hatte ihn wieder.
    Gegen Mittag fragte er Nina, ob sie am Abend mit ihm essen gehen würde; sie sagte ja. Ihre Freude klang ehrlich.
    Zwei Stunden später kehrte er von der Ausstellungseröffnung eines lokalen Künstlers zurück in die Redaktion und setzte sich an seinen Schreibtisch. Sebastian blickte auf, als er ihn bemerkte, und beugte sich verschwörerisch zu ihm herüber.
    »Hast du ein paar Minuten Zeit?«
    Carsten zuckte mit den Schultern. »Ich hab noch keine Mittagspause gehabt.«
    »Fein, mir geht's genauso.«
    »Gehen wir irgendwo was essen?«
    Sebastian schüttelte den Kopf. »Ich will dir was zeigen.«
    »Was denn?«
    »Abwarten.«
    Sie standen auf, und Carsten folgte Sebastian nach draußen in die Eingangshalle. Dort zwinkerte der Polizeireporter Steinberg zu und stieg über die Absperrung. Carsten sah einen Moment lang unsicher zwischen ihnen hin und her. »Wenn's um den Keller geht, den kenne ich schon.«
    Sebastian verneinte. »Nicht den Keller. Komm einfach mit.«
    Mit diesen Worten wandte er sich um, kletterte über die zweite Treppe am Fuß der Freitreppe und stieg die breiten Stufen hinauf.
    Carsten seufzte. Wieder das Haus. Noch ein Geheimnis. Er hob die Schultern und folgte Sebastian, ohne weitere Fragen zu stellen. Oben wandten sie sich nach links, gingen einen Korridor entlang und an mehreren offenen Türen vorüber. Carsten entdeckte morsche Regale, ein paar kaputte Stühle und einen Schreibtisch. In einem Raum lagen über den Boden verstreut alte Papiere, doch Sebastian ließ ihm nicht die Zeit, sie sich näher anzusehen.
    »Steht nichts drauf, ich hab schon nachgeschaut«, meinte er nur und eilte weiter.
    Am Ende des Flurs erreichten sie eine zweite Treppe, die sie wieder hinab ins Erdgeschoss führte. Sebastian steuerte zielsicher um mehrere Ecken, kletterte einmal durch eine durchbrochene Zwischenwand und blieb schließlich vor einer morschen Holztür stehen.
    Als er sie öffnete, gab sie den Blick frei auf einen kleinen Innenhof, kaum größer als Carstens Wohnung. Zu allen vier Seiten stiegen die Wände glatt und ohne die Verzierungen der Außenfassade nach oben. Ein paar trockene Kletterpflanzen rankten sich lustlos am Mauerwerk hinauf. Alle Fenster schienen von innen mit Brettern vernagelt zu sein, die meisten Scheiben waren zerbrochen. Das Viereck des blauen Himmels schien endlos weit über ihnen zu schweben.
    Im Zentrum des winzigen Hofes stand eine Kapelle. Sie nahm mehr als die Hälfte seiner Fläche ein, von der Hoftür bis zu ihrem bogenförmigen Eingang waren es keine vier Schritte. Von seinem Standpunkt aus konnte Carsten nur die Vorderseite erkennen. Darin gab es keine Fenster. Ein schmuckloses Metallkreuz war über dem Tor in die Wand eingelassen.
    Sebastian ging voran, drückte das Doppeltor auf und betrat die Kapelle. Carsten

Weitere Kostenlose Bücher