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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hielten.«
    Nina aß weiter, aber ihr Blick verriet, wie aufmerksam sie zuhörte.
    »Ich war mit Georg, einem Fotografen, unterwegs. Wir hatten noch eine Praktikantin dabei, Ines, sechzehn Jahre alt. Während Georg und ich an der Tür des Elternhauses von einem der beiden warteten, blieb das Mädchen im Auto sitzen. Plötzlich fuhr unten auf der Straße ein Wagen vorbei, sehr langsam, mit vier Männern, zwei vorne und zwei hinten. Die beiden auf dem Rücksitz waren die Ausbrecher. Wir sprangen ins Auto und folgten ihnen. Das war Fehler Nummer eins. Als die anderen bemerkten, dass wir sie verfolgten, stoppten sie, und der Fahrer stieg aus. Wir hatten in einiger Entfernung hinter ihnen angehalten, und erst jetzt wurde uns wirklich klar, was für eine Geschichte uns hier quasi auf dem Silbertablett geliefert wurde. Wir waren beide ziemlich nervös, und Ines wurde ganz klein auf dem Rücksitz, aber statt abzuhauen und die Polizei zu benachrichtigen, warteten wir ab, was der Mann uns zu sagen hatte. Ich hatte den Kerl noch nie vorher gesehen. Er schlug uns vor, ein Interview mit den Ausbrechern zu führen. Sie würden unsere Fragen beantworten, dafür würden wir sie abhauen lassen. Das klang simpel und sehr erfolgversprechend.« Carsten machte eine kurze Pause und fuhr dann langsam fort. »Solche Geschichten landen nicht nur auf der eigenen Titelseite. Wir dachten daran, dass allein die Fotos ein Vermögen bringen würden, deshalb gingen wir auf das Angebot ein. Wir folgten dem Wagen hinaus aus der Stadt, auf einen Feldweg und in Richtung eines kleinen Waldes, nördlich von Heidelberg. Fehler Nummer zwei.«
    Er trank einen weiteren Schluck und blickte auf sein Essen, das langsam kalt wurde. Er hatte ohnehin keinen Hunger mehr. Es war lange her, dass er die Geschichte jemandem erzählt hatte. Die meisten, die er kannte, hatten ohnehin die Berichte in den Zeitungen und im Fernsehen verfolgt.
    »Kurz bevor wir den Waldrand erreichten, hielt ich an. Meine Knie zitterten so sehr, dass ich kaum noch in der Lage war, die Pedale zu bedienen. Plötzlich wurde mir klar, auf was wir uns eingelassen hatten. Die anderen waren zu viert, und mindestens zwei von ihnen standen im Verdacht, Mörder zu sein. Ich hatte mit einem Mal schreckliche Angst, Georg und Ines ging es genauso. Als die vier in dem anderen Wagen bemerkten, dass wir angehalten hatten, stoppten sie ebenfalls und kamen langsam im Rückwärtsgang auf uns zu. Ich sah, wie die Gesichter der beiden Ausbrecher in der Heckscheibe immer näher und näher kamen. Und genau in diesem Moment verfiel ich in Panik. Ich trat aufs Gas, riss das Lenkrad herum und versuchte zu wenden. Der Feldweg war schmal und das Gelände zu beiden Seiten schlammig. Trotzdem schaffte ich es irgendwie, bevor die anderen nahe genug heran waren. Ich raste in entgegengesetzter Richtung davon, und um uns war ein Höllenlärm, die Reifen sprangen und rumpelten, der Motor kreischte, weil ich in der Aufregung den falschen Gang eingelegt hatte, und der Fotograf schrie die ganze Zeit, ich solle noch schneller fahren. Schließlich kamen wir zurück auf die Hauptstraße, und dort sah ich zum ersten Mal in den Rückspiegel.«
    Er machte eine erneute Pause, und diesmal half nicht einmal ein weiterer Schluck, den Schmerz aus seinem Kopf zu vertreiben. »In meiner Heckscheibe war ein winziges Loch. Sie war nicht gesplittert, da war einfach nur dieses runde Loch, so groß wie eine Murmel. Die kleine Ines lag auf der Rückbank und war voller Blut.«
    Nina sagte nichts, ihre Augen waren groß und rund.
    »Die Kugel steckte in meiner Rückenlehne. Sie hatte den Körper des Mädchens durchschlagen, genau zwischen Schulterblatt und Wirbelsäule. Die vier Männer waren verschwunden. Die Polizei hat sie erst einige Tage später festgenommen.«
    »Was war mit dem Mädchen?«
    »Sie hat's überlebt. Fast ein Jahr lang sah es aus, als wäre sie für immer gelähmt, doch dann begann sich ihr Zustand mit einem Mal zu bessern. Spätestens im nächsten Jahr, sagen die Ärzte, ist sie wieder völlig in Ordnung. Sie hat unglaubliches Glück gehabt.« Er atmete tief ein. »Der Verlag feuerte die gesamte Chefredaktion, der Fotograf und ich landeten vor Gericht. Grobe Fahrlässigkeit, hieß es, der ganze Mist. Sie hatten nicht mal unrecht. Irgendwie gelang es Georg, sich aus der ganzen Sache herauszuwinden, indem er behauptete, alles sei meine Idee gewesen. Schließlich war also ich der Bösewicht.«
    »So ein Schwein«, flüsterte

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