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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Nina.
    Er nickte. »Zuletzt wurde das Verfahren eingestellt, aber ich hatte die ganzen Kosten am Hals und natürlich einen Ruf, der allen Personalchefs schon beim Öffnen meiner Bewerbungsmappe entgegensprang. Keiner wollte mich mehr haben. Aber, ehrlich gesagt, war mir das bis vor kurzem ganz recht. Ich hatte kein Interesse mehr an meinem Job. Aus, vorbei.«
    »Trotzdem bist du jetzt hier.«
    Er lächelte und wusste selbst, dass es gekünstelt wirkte. »Mir geht's besser, seit ich bei euch bin. Eigentlich schon seit vergangener Woche. Irgendwann muss ich einem Freund in Frankfurt dafür einen ausgeben.« Er fuhr sich durchs Haar, als könne er damit auch die bösen Erinnerungen abstreifen. »Tut mir leid. Jetzt ist das Essen kalt.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe gefragt«, sagte sie. »Du hast diese Geschichte noch nicht oft erzählt, stimmt's?«
    »Nein.« Er lächelte, verlegen, aber ehrlich. »Macht es dir was aus, wenn ich zahle?«
    Ein weiteres Kopfschütteln.
    Er rief die Kellnerin und ließ sich die Rechnung bringen. Kurz darauf setzte er Nina zu Hause ab. Sie drückte seine Hand, sehr lange, bat ihn aber nicht mit hinauf. Eigentlich war er ganz froh darüber.
    Michaelis stellte den BMW nicht am Brunnen ab, sondern fünfzig Meter davor an einer kleinen Kreuzung. Es war fast Mitternacht, und das Risiko, beobachtet zu werden, war gering. Doch selbst wenn – was gab es schon zu sehen? Nur einen Mann, der um seinen Arbeitsplatz schleicht. Ungewöhnlich, aber kaum verdächtig. Er erreichte das Redaktionsgebäude, ging aber nicht bis zum Haupteingang, sondern bog vorher nach rechts und folgte dem Verlauf der Seitenwand. Mit zwei, drei geschickten Sätzen kletterte er über die Reste der Stadtmauer und schlich, jetzt geschützt vor neugierigen Blicken, an der hinteren Fassade entlang. Mehrfach musste er weitere Gesteinstrümmer überwinden. Rund um das Gebäude verlief ein schmaler Streifen Ödland, einst eine kleine Parkanlage für die Patienten der Klinik, heute Ruinenfeld und Müllhalde. Dahinter grenzte eine hohe, weitgehend intakte Mauer das Gelände vom dunklen Waldrand ab. Über ihrer Kante reckten sich gewaltige Fichten wie schwarze Riesen in den Nachthimmel.
    Er passierte mehrere Schilder, die vor Einsturzgefahr warnten. Lebensgefahr! stand in fetten Buchstaben auf gelbem Grund. Ohne sie zu beachten, betrat er den Westflügel. Es gab keine Tür, nur einen gezahnten Durchbruch im Mauerwerk. Trotz der Öffnung roch die Luft hier drinnen abgestanden und nach altem Kalk und Zement. Die Decke der ersten Etage war bereits vor langer Zeit zusammengebrochen, der Raum hinter dem Einstieg sah aus, als sei eine Bombe eingeschlagen. Für jeden, der sie nicht kannte, bot die dunkle Trümmerwüste unzählige Fallen und Einbrüche. Michaelis wusste genau, wo er seine Füße hinsetzen durfte und wo nicht.
    Drei Korridore, zwei Treppen und eine baufällige Balustrade später klopfte er an einer soliden Stahltür. Irgendjemand hatte sie mit brauner Farbe und Dreck beschmiert, um sie der verfallenen Umgebung anzupassen. Tafuri ließ ihn zwei Minuten warten, ehe er endlich öffnete.
    Michaelis strafte den Italiener mit einem finsteren Blick. »Nett, dass Sie sich so viel Zeit lassen.«
    »Wie kann ich wissen, dass Sie es sind?« Tafuris Verteidigung klang halbherzig. Michaelis war ihm so gleichgültig wie das Ungeziefer draußen auf dem Gang. »Wie wär's mit einem Blick auf den Bildschirm?«
    »Zu dunkel.«
    »Ja, sicherlich.«
    Michaelis war kein schwacher Mann, doch Tafuri übertraf ihn an Statur und purer Körperkraft um ein Vielfaches. Der Umriss des Italieners vor dem halben Dutzend flimmernder Monitore war der eines gewaltigen Quadrates, aus dessen Seiten muskelbepackte Arme und Beine sprossen. Sein Schädel versank zur Hälfte in der ungeheuren Masse des Oberkörpers, selbst sein Gesicht wirkte eckig und ähnelte dem einer grob behauenen Statue. Seine Augen wirkten stumpf wie schwarze Murmeln. Eine Folge der langen Stunden vor den Bildschirmen. Außer Nicken und Kopfschütteln schien er zu keiner körperlichen Geste fähig zu sein. Wenn er sprach, ganz gleich ob entspannt oder zornig, tat er das nahezu bewegungslos.
    Doch der tumbe Eindruck täuschte. Abgesehen von enormer Intelligenz und Beobachtungsgabe besaß Tafuri das Geschick eines Mannes, den jahrelanges Training auf alle Möglichkeiten der Konfrontation – geistig wie körperlich – vorbereitet hatte. Es gab Momente, da packte Michaelis beim

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