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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sagte die Frau, »ich habe die Anschrift in all den Jahren nicht ein einziges Mal gebraucht.«
    Er bedankte sich und stand auf. Während sie ihn zur Tür begleitete, fragte sie: »Und Sie sind wirklich ein Freund der Kirchhoffs, ja?«
    »Ganz bestimmt«, versicherte er. Er wollte nur noch hinaus. Sie nickte, jetzt ehrlich überzeugt, und reichte ihm die Hand.
    »Auf Wiedersehen, junger Mann. Es tut mir leid.«
    Er nickte. »Auf Wiedersehen.«
    Dann stürmte er die Treppe hinunter, sprang ins Auto. Sah im Losfahren das Gesicht der alten Frau hinter den Gardinen ihres Fensters.
    An der nächsten Kreuzung fädelte sich ein blauer Mazda hinter ihm in den Verkehr.
    Er fand die Adresse erst auf dem Stadtplan, dann in einem grauen Innenstadtviertel am Hauptbahnhof. Es war ein Altbau wie so viele andere, schmuddelig, ungepflegt, mit zerbrochenem Türschloss. Im Treppenhaus stieß er fast gegen die offene Tür einer Etagentoilette.
    Auf der Fahrt hierher hatte ihn der Gedanke an die Briefe nicht losgelassen. Falls Sandra tot war – falls sie tot war! –, dann gab es irgendetwas, das er noch nicht abschätzen konnte. Aber waren die Briefe nicht der Beweis dafür, dass die alte Frau sich geirrt hatte? Dass Sandra noch lebte?
    Er erinnerte sich an den Tag im Sperrgebiet. Wie sie sich später geküsst hatten. Und an das, was danach kam. An ihren Körper, ihre Berührung, ihren Atem. An das, was sie damals sagte.
    Vielleicht hätte er niemals wieder hierherkommen sollen. Unsinn. Wie konnte er ahnen, dass es eine Selbsttherapie mit Rückstoß wurde? Wumm! – und schon schleudert es uns vierzehn Jahre zurück in die Vergangenheit.
    Sandra.
    »Ja, bitte?«, fragte eine männliche Stimme, nachdem er an der Wohnungstür klopfte. Es gab keine Klingel.
    Die Tür blieb geschlossen. »Mein Name ist Carsten Worthmann«, sagte er laut. »Ich bin – war ein Freund Ihrer Frau. Von Sandra.«
    Schritte, ein Rumpeln, dann öffnete sich die Tür. Sven Kirchhoff erschien im Türspalt und betrachtete ihn misstrauisch. Er war groß und trug billige, aber saubere Kleidung. Wangen und Kinn waren von einem Vollbart bedeckt. Das Gesicht darunter hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit seinem eigenen.
    »Sie waren ein Freund von Sandra?«, fragte Kirchhoff. »Ich kenne Sie nicht.«
    Carsten schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln. »Es ist lange her. Ihre Frau und ich haben uns vor vierzehn Jahren zum letzten Mal gesehen. Wir sind entfernte Verwandte.«
    Kirchhoff schien einen Augenblick lang zu überlegen. Sein Blick tastete jeden Quadratzentimeter von Carstens Gesicht ab. »Worthmann, sagen Sie? Carsten?« Plötzlich nickte er. »Sie und Sandra waren Brieffreunde, stimmt's?«
    Carsten entging nicht, dass er waren sagte. Vergangenheit.
    »Richtig«, sagte er. Es war mit einem Mal sehr schwierig, auch nur ein einziges Wort zu formulieren.
    »Sandra ist tot«, sagte Kirchhoff.
    Carsten nickte. Die Bewegung war zu langsam. Die Umgebung verschwamm. Tot. Tot. Tot.
    Kirchhoff schien seine Betroffenheit zu bemerken. Sein Gesichtsausdruck verlor die bisherige Härte, er trat zur Seite und zog die Tür auf. »Kommen Sie rein«, bat er.
    Die Wohnung bestand aus einem einzigen Zimmer, groß, aber vollgestopft mit einer Unzahl von Möbelstücken. Es gab ein Bett, davor die scheußliche Imitation eines Perserteppichs. Dazu eine Sitzecke, eine schmale Küchenzeile. Vollgestopfte Bücherregale. Auf einem Tisch lagen mehrere Ausgaben eines Universitäts-Magazins. Daneben ein Fotoalbum.
    Kirchhoff bemerkte Carstens Blick. »Ich war Dozent an der Uni, bis vor ein paar Monaten. Abgewickelt.«
    Carsten nickte. Das wusste er aus Sandras Briefen. Sandras Briefen?
    »Setzen Sie sich.« Sie nahmen Platz, aber Kirchhoff sprang gleich wieder auf. »Möchten Sie was trinken? Kaffee, Wasser, Wein? Tee, vielleicht?«
    »Nein, danke.«
    »Ich koche trotzdem Kaffee.«
    Schließlich saßen sie sich gegenüber. Zwischen ihnen kräuselte sich Kaffeedampf zur Decke.
    »Ich hätte Ihnen damals gleich schreiben sollen, ich weiß«, sagte Kirchhoff. »Aber gleich nach ihrem Tod musste ich die Wohnung räumen und hatte eine Menge Mist um die Ohren. Können Sie sich das vorstellen? Vier Tage nach dem Unfall teilte man mir mit, die Wohnung sei zu groß für mich allein, man habe bereits eine neue gefunden. Nicht mal ein Beileid, nicht mal das.«
    Carsten nickte stumm.
    »Sie waren ziemlich eng befreundet, was?«, fragte Kirchhoff. »Sandra hat Ihnen oft geschrieben. Manchmal

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