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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Taschen ab. Er glaubte erst, sie täte es, um auszuruhen, doch als er ihren Blick bemerkte, machte er ihn stutzig. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie ihn von oben bis unten.
    »Sind Sie ein Verwandter?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nur ein Freund. Von Frau Kirchhoff.«
    Die Frau sah ihn immer noch misstrauisch an, dann klärte sich ihr Blick, und mit einem Mal war etwas anderes in ihren Augen. Ein Schatten.
    »Sandra«, flüsterte sie. »Das ist lange her …«
    Er spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. »Was ist lange her?«
    Sie senkte ihren Blick für einen Moment, schüttelte den Kopf und sah dann wieder zu ihm auf. »Darf ich nach Ihrem Namen fragen, junger Mann?«
    »Worthmann«, presste er hervor.
    »Sehen Sie«, sagte sie langsam, »Sie werden Ihre Freundin hier nicht mehr treffen, Herr Worthmann.«
    »Nicht?« Seine Stimme schwankte.
    »Leider nein«, wiederholte sie und schüttelte dabei erneut den Kopf. »Hier und nirgendwo sonst. Sandra Kirchhoff ist tot.«
    Und während er tief Luft holte, mit weiten Augen und einem schrecklichen Gefühl der Kälte im ganzen Körper, fügte sie hinzu: »Schon seit fast acht Jahren.«
    Eine Weile lang sagte er kein Wort. Es schien ewig zu dauern, bis er wieder sprechen konnte.
    »Aber das kann nicht sein«, stammelte er, und eigentlich war es mehr als ein Stammeln, ein Zittern und Beben und Schwanken, nicht nur in seiner Stimme, in seinem Kopf, den Ohren, seinen Gedanken. Es kann nicht sein.
    Die alte Frau öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Sie hat mir geschrieben«, sagte er. »Das letzte Mal erst vor wenigen Wochen.«
    »Unmöglich«, sagte die Frau, und ihr Blick war voller Mitleid, das er nicht wollte. Es gab nichts zu bemitleiden. »Sandra Kirchhoff kam vor acht Jahren bei einem Unfall ums Leben. Mit ihrem Auto. Jeder hier im Haus weiß das.«
    Er schüttelte den Kopf, als könne er sie damit leicht vom Gegenteil überzeugen. Eine leise Stimme flüsterte ihm zu, dass sie recht hatte. Ja, vielleicht hatte sie recht.
    Nein, unmöglich.
    Die alte Frau griff nach seiner Hand. Sein Versuch, sie zurückzuziehen, kam halbherzig.
    »Sie fuhr allein mit dem Wagen, schleuderte und prallte gegen eine Mauer. Sie war sofort tot.«
    Großer Gott.
    Un-mög-lich!
    »Ihr Mann musste damals die Wohnung verlassen«, fuhr sie fort. »Für einen allein war sie zu groß, man wies ihm eine andere zu.«
    »Das Namensschild«, stieß er hervor, mit zusammengekniffenen Lippen, sodass sie die Bedeutung der Worte mehr erriet als hörte.
    »Die Wohnung steht seit damals leer«, erklärte sie. »Eine Schande, aber nicht ungewöhnlich. Niemand von der Hausverwaltung hat es jemals für nötig gehalten, das Schild zu entfernen.«
    Unsinn, so etwas gibt es nicht. Niemals. Aber du bist hier nicht zu Hause, flüsterte die Stimme. Das hier ist der Osten. Voll von leeren Häusern und vergessenen Namen.
    Er gab sich einen Ruck, kräftig, fast schmerzhaft. Für einen Moment klärte sich sein Blick, es gelang ihm wieder vernünftig zu denken. »Ihr Mann«, sagte er, »wissen Sie, wo der jetzt wohnt?«
    Die Frau ließ seine Hand los. »Ich hatte eine Adresse, irgendwo. Ich muss sie suchen.« Sie deutete auf die Taschen. »Vielleicht sollten Sie die jetzt doch nehmen. Das geht schneller.«
    Er ergriff die beiden Tüten. Mit einem Mal konnte auch die Frau die Treppen schneller hinaufgehen als zuvor. Vor einer Tür im zweiten Stock ließ sie ihn anhalten. Sie schloss auf.
    »Kommen Sie herein«, bat sie.
    Die Wohnung roch muffig. Nach Alter und zu wenig frischer Luft. Sie bot ihm einen Platz auf einem uralten Sofa an.»Warten Sie. Es wird einen Augenblick dauern.«
    Während sie in Schubladen und Schränken kramte, dachte er wieder an die Briefe. Sie schrieben sich seit 1979, seit vierzehn Jahren. Wenn Sandra, wie die Alte behauptete, vor acht Jahren gestorben war, wer hatte dann ihre Briefe geschrieben? Seitdem mussten es an die hundert sein. Mit einem Mal konnte er an nichts anderes mehr denken.
    Und wenn sie nun doch nicht tot war? Wenn die Frau sich irrte? Oder schlichtweg log? Vielleicht war sie senil. Wirr, ohne dass man es ihr ansah. Er hatte so etwas schon früher erlebt.
    »Ah, ich wusste doch, dass ich sie irgendwo hatte«, rief sie plötzlich und zog aus einem zerfledderten Notizbuch einen Zettel.
    Sie gab ihn ihm, und er las darauf eine Adresse, hier in Leipzig. Darunter stand ein Name. Sven Kirchhoff. Sandras Mann.
    »Behalten Sie ihn nur«,

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