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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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»Sebastian kommt auch. Er bringt was zu rauchen mit, ich besorge die Getränke. Also?«
    Im Moment war ihm weder nach Drogen noch Alkohol zu Mute, trotzdem nickte er. Ein wenig Ablenkung würde ihm kaum schaden. Bis morgen konnte er ohnehin nichts unternehmen. »Gerne«, sagte er und grinste. »Bei euch gibt's schon Gras?«
    Nina schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. »Aus dem West-Paket, wie früher«, entgegnete sie bissig, drehte sich um und ging zurück zu ihrem Schreibtisch. Als sie noch einmal herübersah, prusteten beide los.
    Du kommst wieder in Ordnung, dachte er. Was macht es schon, dass Sandra tot ist? Wer bemerkt schon den kleinen Unterschied?
    Ninas Wohnung war auf den ersten Blick weniger chaotisch, als er erwartet hatte. Im Wohnzimmer gab es ein knallbuntes Sofa und zwei Sessel mit rotem Bezug. Unter dem Fenster stapelten sich Türme aus Büchern, an den Wänden hingen zwei abstrakte Gemälde. Originale von befreundeten Studenten, nahm er an.
    Als er eintraf, stand die Tür zum Schlafzimmer offen. Er riskierte einen neugierigen Blick, doch Nina war sofort neben ihm und schlug sie zu. »Nicht aufgeräumt«, erklärte sie knapp, aber es klang nicht nach einer Entschuldigung. Eher nach: Das geht dich nichts an.
    Sebastian erschien ein paar Minuten später, und es dauerte nicht lange, da saßen sie beisammen, tranken Wein und Bier und mühten sich mit Tabak, Blättchen und ein paar Haschisch-Krümeln ab. Carsten war nicht sicher, ob er Lust auf das Zeug hatte. Er fürchtete sich vor dem, was er sehen mochte.
    Er hatte lange überlegt, ob er den beiden von Sandra erzählen sollte. Er brauchte jemanden, mit dem er darüber reden konnte, jemanden, der ihm sagte, wie er sich verhalten sollte. Sandras Tod und das Rätsel der Briefe waren wie Gewichte, die auf seinen Schultern lasteten. Es konnte nicht schaden, wenn er einen Teil der Last für eine Weile abwälzte; selbst wenn es nur ein Verlagern von der einen auf die andere Schulter war. Genug Zeit zum Atemholen. Zeit zum Nachdenken, vielleicht.
    »Du hast mich gefragt, ob ich Probleme habe«, sagte er.
    Nina nickte. Und kicherte. Sie hatte sich gerade den zweiten Joint angesteckt. Sebastian schien viel klarer zu sein.
    Carsten holte tief Luft und erzählte ihnen die ganze Geschichte. Ohne Einleitung, ohne Umschweife. Sein Besuch in Leipzig als Fünfzehnjähriger. Die Sache im Sperrgebiet. Wie er und Sandra sich kurz darauf ineinander verliebt hatten. Er deutete an, dass sie miteinander geschlafen hatten, verheimlichte ihnen aber, dass es für beide das erste Mal gewesen war. Er berichtete von den Briefen, die sie sich zeitweise wöchentlich geschickt hatten. Und er erzählte von seinen beiden letzten Fahrten nach Leipzig und von dem, was er dort erfahren hatte. Danach fühlte er sich matt und ausgelaugt. Eine ganze Weile sagte keiner etwas. Schließlich setzte sich Nina, die während der ganzen Zeit mit ausgestreckten Beinen auf dem Sofa gelegen hatte, aufrecht hin und sah ihn an. Sie schien sich zu bemühen, die Auswirkungen des Rauschs zu verdrängen.
    »Und du bist ganz sicher, dass sie tot ist?«
    Er hob die Schultern. »Ihr Mann sagt, er hätte die Leiche gesehen. Doch selbst wenn sie noch lebt, welchen Grund hätte sie haben können, ihren eigenen Tod zu inszenieren und trotzdem weiterhin Briefe an mich zu schreiben, als sei nichts geschehen? Das passt nicht zusammen.«
    »Abgesehen davon, dass zu einem solchen Schauspiel mehr als einer gehören«, ergänzte Sebastian. »Was ist mit der Polizei, den Gerichtsmedizinern, Zeugen des Unfalls? So vielen Menschen kann man nichts vormachen.«
    Nina gab nicht auf. »Vielleicht hat ihr Mann gelogen.«
    »Er sah nicht aus, als ob er das alles nur spielt.«
    »Kannst du das beurteilen?«, meinte Sebastian zweifelnd.
    Carsten zuckte mit den Achseln. »Dann bliebe immer noch die alte Frau.«
    »Sie könnte sich mit ihm abgesprochen haben«, wandte Nina ein. »Du weißt ja nicht mal ihren Namen.«
    Das war richtig. Er hatte sie weder danach gefragt, noch war ihm ein Türschild an ihrer Wohnung aufgefallen.
    Ninas Einwand klang logisch – auf den ersten Blick. Aber welche Veranlassung hätten die Alte und Kirchhoff haben können, ihm eine solche Lügengeschichte aufzutischen? Er stellte den anderen die Frage.
    Nina seufzte, ohne eine Antwort zu wissen.
    Sebastian sagte: »Ich glaube, dass du recht hast. Vielleicht sagen die beiden wirklich die Wahrheit. Das würde bedeuten, dass Sandra tatsächlich bei dem

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