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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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machte mich das ziemlich eifersüchtig.« Er lächelte wehmütig bei der Erinnerung. Es war offensichtlich, dass er keine Ahnung hatte, wie eng ihre Freundschaft wirklich gewesen war.
    »Ich habe es nicht gewusst«, sagte er schließlich, als Kirchhoff einen Schluck von seinem Kaffee nahm. »Ich war bei Ihrer alten Adresse. Eine Nachbarin hat es mir erzählt.«
    »Das tut mir leid. Ich hätte Ihnen wirklich schreiben sollen, aber es gab so viel anderes …«
    »Natürlich.« Carsten nickte verständnisvoll.
    Einen Moment lang überlegte er, ob Kirchhoff selbst vielleicht die Briefe verfasst haben könnte. Hätte er einen Grund dazu haben können? Wenn ja, welchen? Aber, lieber Himmel, seit Sandras Tod waren acht Jahre vergangen, er hatte unzählige Briefe bekommen. Was hätte Kirchhoff dazu veranlassen sollen?
    Er beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen. »Ich habe Briefe von Sandra bekommen. Regelmäßig, bis vor ein paar Wochen.«
    Kirchhoff verschluckte sich an seinem Kaffee und stellte die Tasse mit einem Scheppern ab. Braune Tropfen spritzten in alle Richtungen. Mit einem Mal war sein Blick finster, seine Stirn glänzte.
    »Wenn Sie glauben, dass das witzig ist, dann …« Er wollte aufstehen und Carsten hinauswerfen, aber der fiel ihm ins Wort.
    »Kein Witz. Es gibt diese Briefe. Sie liegen bei mir zu Hause in Frankfurt in einer Schublade. Etwa hundert Stück, schätze ich.«
    Kirchhoff ließ sich zurück in seinen Sessel fallen. Sein Gesicht war aschfahl. »Das ist absurd«, keuchte er. Und nach einem Augenblick, in dem er sich wieder fing: »Sie kommen hierher, behaupten, jemand zu sein, den ich nur vom Namen her kenne, und erzählen mir einen solchen Unsinn. Sandras Tod ist acht Jahre her, aber das bedeutet nicht, dass …«
    Carsten unterbrach ihn erneut. Diesmal, indem er seinen Presseausweis aus der Manteltasche zog und neben der Tasse auf den Tisch legte.
    Kirchhoff warf einen Blick darauf, atmete einmal tief ein und wieder aus. »Tote schreiben keine Briefe.«
    »Haben Sie eine Ahnung, wo diese Briefe herkommen könnten?«
    Kirchhoff saß einen Moment lang wie versteinert da. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Falls es sie gibt, sind sie ein makaberer Scherz.«
    »Mag sein«, sagte Carsten. »Aber hundert makabere Scherze? Voll von Dingen, die keiner wissen kann, außer Sandra und mir selbst?« Das war nicht ganz richtig. Sandras Briefe waren unpersönlicher, weniger intim geworden. Er versuchte, sich zu erinnern, wann dieser Umschwung stattgefunden hatte. Vor acht Jahren? Oder gleich nach der Hochzeit? Vielleicht erst viel später?
    Kirchhoff hob die Schultern. »Gibt es so einen Brief, den Sie mir zeigen könnten? Wenigstens einen einzigen?«
    »Die liegen alle in Frankfurt.«
    »Dann holen Sie sie her. Ich erkenne ihre Handschrift sofort, auch heute noch.«
    Carsten schüttelte den Kopf. »Die Schrift stimmt. Es war immer die gleiche, vierzehn Jahre lang.«
    »Das ist unmöglich.«
    »Es muss eine Erklärung geben. Irgendeinen Hinweis, wann und vor allem wie ist Sandra umgekommen?«
    »In unserem Auto. Am zwölften Juni 1985. Sie fuhr allein zum Einkaufen, ich war damals an der Uni. Wir hatten den Wagen gerade erst bekommen. Am späten Vormittag holte man mich aus der Vorlesung. Sie habe einen Unfall gehabt, hieß es. Das Auto sei ins Schleudern geraten und hätte eine Hauswand gerammt. Die Ärzte sagten, sie sei sofort tot gewesen. Man brachte mich in die Gerichtsmedizin, um ihre Leiche zu identifizieren.«
    »Sie haben die Leiche gesehen?«
    »Ja, natürlich. Und es war Sandra, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen. Sie war definitiv tot.«
    Schweigen. Carsten sah den zierlichen Körper der vierzehnjährigen Sandra vor sich, weiß und kalt und leblos, wie er mit geschlossenen Augen auf einem schimmernden Metalltisch lag, umgeben von Männern in grünen Kitteln. Selbst jetzt konnte er sie sich immer noch nicht als Erwachsene vorstellen. Das Bild schien jeden Winkel seines Schädels auszufüllen. Er konnte keine weitere Frage stellen.
    Schließlich war es Kirchhoff, der die Stille durchbrach. »Sie haben Sie sehr gemocht, nicht wahr?«, fragte er.
    »Ja«, sagte Carsten knapp. »Sehr.«
    »Können Sie die Briefe besorgen?«
    »Sicher.«
    »Kommen Sie dann wieder und zeigen sie mir? Ich muss diese Briefe sehen, um wirklich an sie zu glauben!«
    »Natürlich.« Eine Pause. Luftholen. »Haben Sie danach wieder geheiratet?«
    Kirchhoff schüttelte den Kopf. »Sieht das hier so aus?«, fragte er

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