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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und umfasste mit einer Handbewegung das ganze Zimmer. »Ich habe Sandra sehr geliebt, wissen Sie?«
    Carsten nickte. O ja, er wusste genau, wie das war.
    Er zog Zettel und Stift hervor, schrieb die Telefonnummer der Redaktion auf und schob sie über den Tisch. »Falls Ihnen irgendwas einfällt«, erklärte er mit schwacher Stimme. Dann stand er auf.
    Kirchhoff brachte ihn zur Tür. Sein Blick war glasig. »Und Sie versprechen mir, wiederzukommen? Mit den Briefen?«
    Carsten reichte ihm die Hand. »Versprochen.«
    Als er am Morgen seine Wohnung verließ, versicherten ihm die Handwerker, dass sie bis zum Abend mit allen Arbeiten fertig sein würden. Er könne sich auf eine Wohnung freuen, die wie neu sein werde. Carsten rang sich ein pflichtschuldiges Lächeln ab. Er hoffte, dass es begeistert wirkte.
    Wieder war er der Erste in der Redaktion. Als er am Schreibtisch saß, wählte er seine Frankfurter Nummer.
    Elisabeth ließ das Telefon fünfmal klingeln, ehe sie den Hörer abnahm. »Hallo?«
    »Elisabeth, ich bin's«, sagte er und versuchte, seiner müden Stimme einen fröhlichen Unterton zu verleihen.
    »Sie klingen nicht allzu gut, mein Junge.«
    »Mir geht's großartig«, log er. »Und Ihnen?«
    Sie lachte. »Diese Ruhe im Haus, herrlich.«
    »Wirklich?«
    »Nein. Das war eine Lüge. Ich vermisse Sie.«
    Er seufzte. »Ich habe auch nicht die Wahrheit gesagt. Ich bin erst spät ins Bett gekommen.«
    »Damit wären wir quitt.«
    »Stimmt.« Er machte eine kurze Pause. »Würden Sie mir einen Gefallen tun?«
    Sie lachte erneut. »Ich wusste, dass Sie nicht nur anrufen, um zu fragen, wie es mir geht.«
    »Warten Sie ab. Wenn erst mein Heimweh einsetzt, werde ich Sie mit solchen Anrufen bombardieren.«
    »Tun Sie das, mein Junge, tun Sie das.«
    Er lächelte. »Im Ernst: Ich brauche Ihre Hilfe.«
    »Ist es so schlimm?«
    »Ich muss Sie bitten, in meinen Sachen zu wühlen. Ich brauche dringend Sandras Briefe.«
    »Ich soll Ihr Zeug durchsuchen?«
    »Sie haben meine Unterhosen gewaschen, da werden Sie auch in meine Schränke sehen dürfen.«
    »Na gut. Wo soll ich suchen?«
    »In den untersten Schubladen im Schrank. Sie müssten voller Briefe sein. Sie sind alle von Sandra. Packen Sie sie zusammen, und schicken Sie sie mir per Eilpost. Es ist wichtig, dass ich sie spätestens morgen Früh hier habe.«
    »Großer Gott, was ist denn passiert?«
    »Sandra ist tot.«
    Schweigen, dann: »Wann, um Himmels willen?«
    »Vor acht Jahren.«
    »Vor acht – «
    »Acht Jahren, ganz genau. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie mir diese Briefe schicken.«
    »Aber wenn sie schon vor so langer Zeit …«
    »Elisabeth, bitte! Nicht jetzt und am Telefon. Ich erzähle Ihnen alles später, einverstanden?«
    Sie zögerte. »Natürlich. Die Briefe gehen heute noch raus. Ich werde sie gleich zum Postamt bringen.«
    »Noch etwas: Morgen ist Samstag, da ist die Redaktion nicht besetzt. Sie müssen sie an meine Privatadresse schicken.«
    »Geben Sie mir die Anschrift. Ich schreibe mit.«
    Das tat er und sagte anschließend: »Sie sind ein Schatz.«
    »Ich habe mich schon gefragt, wann Sie es bemerken.«
    »Glauben Sie mir, das habe ich längst.«
    »Sie Charmeur.«
    Sie verabschiedeten sich, und Carsten legte auf. Kurz darauf erschienen die übrigen Redakteure, mit Ausnahme von Sebastian. Er treibe sich auf einem Polizeitermin herum, erklärte Michaelis. Mehr bekam Carsten von der Konferenz nicht mit. Die Nacht hatte ein wenig in dem Wirrwarr in seinem Kopf aufgeräumt. Trotzdem blieben all die Fragen vom Vorabend offen. Sandras Gesicht wirbelte schneller und deutlicher durch seine Gedanken als jemals zuvor.
    Irgendwann, es musste früher Nachmittag sein, riss Nina ihn aus seinen Grübeleien. Plötzlich saß sie neben ihm auf der Schreibtischkante und betrachtete ihn besorgt aus ihren dunklen Augen.
    »Probleme?«
    Er schüttelte halbherzig den Kopf.
    »Das war nicht sehr überzeugend«, beharrte sie.
    Carsten seufzte und lächelte sie an. »Ein kleines Problem, okay?«
    »Du siehst furchtbar aus. Schlimm, wenn ich das so sage?« Mit diesem Lächeln hätte sie noch ganz andere Dinge sagen dürfen. Sie wusste das genau.
    »Wahrscheinlich hast du recht«, meinte er.
    »Klar. Aber du musst mir jetzt nicht davon erzählen. Ich bin sowieso kein guter Zuhörer.« Vor zwei Tagen hatte sie ihm das Gegenteil bewiesen. »Was hältst du davon, heute Abend vorbeizukommen? Nicht zum Rendezvous«, fügte sie gleich mit unschlagbarer Offenheit hinzu.

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