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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Himmel«, stieß Jonas aus, als er seinen triefenden Besucher einließ. »Du siehst nicht gut aus.«
    Sebastian trat griesgrämig in die Diele. »Ich tropfe.«
    »Willst du ein Handtuch?«
    »Wäre nett.«
    Als Jonas mit einem Badetuch zurückkam, hatte Sebastian sich bereits aus seiner Jacke geschält. Er streifte seine Basketballschuhe ab und stellte sie neben die Tür. Mit dem Handtuch trocknete er sich erst Gesicht und Haar ab, dann tupfte er hilflos über seine nasse Hose.
    »Das trocknet von selbst«, stellte Jonas fest.
    Sebastian nickte. »Muss es wohl. Ist das Essen fertig?«
    »Hey, wir sind nicht verheiratet.«
    Jonas war Mitte vierzig, fast zwanzig Jahre älter als Sebastian. Er war Polizist, wie schon vor der Wende. Damals hatte er den randalierenden Teenager Sebastian gelegentlich in Schutz genommen. Heute war von Jonas' väterlicher Fürsorge nur die unausgesprochene Regel geblieben, dass er derjenige war, der sie bei ihren Treffen bekochte. Darin war er großartig.
    Jonas sah auf die Schachtel in Sebastians Hand. »Sind das die Briefe?«
    Sebastian nickte.
    In der Küche kochte irgendetwas über. Ein Topfdeckel schepperte.
    »Verdammt.« Jonas fuhr herum und stampfte auf seinen kurzen Beinen davon. Als Sebastian hinter ihm in die Küche trat, fuchtelte er bereits hektisch an den Reglern des Gasherdes herum. Er fluchte erneut.
    »Du hättest doch heiraten sollen.«
    »Ich hätte dich damals verhaften sollen.«
    Sebastian stellte die Schachtel mit den Briefen auf dem Küchentisch ab. »Ich schätze, die haben Zeit bis nach dem Essen«, sagte er.
    Fenn stellte den Wagen auf dem kleinen Parkplatz am Anfang der Gasse ab. Alle Buchten, von denen aus er den schmalen Einschnitt im Schachtellabyrinth der Häuser hätte überblicken können, waren belegt. Mit finsterer Miene öffnete er die Tür und trat in den strömenden Regen. Der unasphaltierte Platz hatte sich in einen glitschigen Schlammpfuhl verwandelt, auf dem sich Pfützen zu kleinen Tümpeln blähten. Trotz der frühen Abendstunde war es fast stockdunkel. Am Anfang der Gasse leistete eine trübe Laterne Widerstand gegen die drückende Finsternis. Ihr mattes Schimmern reflektierte auf den Oberflächen der Wasserlöcher, Sterne am Boden, die das Gewitter vom Himmel zerrte.
    Frühling im Harz. Die Zeit der Touristen.
    Der Regen war ein Problem. Nicht so sehr die Nässe; Fenn hatte Schlimmeres überstanden. Eine Beschattung war selbst bei guter Witterung schwierig; im Regen und unter Bedingungen wie diesen wurde sie schnell zur Tortur.
    Er durfte kein Aufsehen erregen, Regel Nummer eins. Gasse und Parkplatz waren menschenleer, doch sobald jemand auftauchte, würde er sich etwas einfallen lassen müssen.
    Während er die Gasse abschritt, entdeckte er die Nische. Sein Blick registrierte eine Bewegung, einige Meter vor ihm. Er erkannte eine Ratte und folgte ihrem Weg quer über das Pflaster. Die Ratte verschwand in einem dunklen Fleck inmitten der gedrängten Fassaden.
    Es war kaum mehr als eine Kerbe zwischen zwei Häusern, breit wie ein Sarg und doppelt so tief. Voller Abfälle, ohne Licht. Ideal. Fenn drückte sich in den Schatten. Die Finsternis legte sich um ihn wie ein Mantel. Die überhängenden Dächer sorgten dafür, dass der Regen nicht bis hierher vordringen konnte. Fenn lehnte sich zurück, konzentrierte sich, dachte nach. Beobachtete.
    Er verfluchte sich jetzt selbst dafür, dass er nicht bereits auf dem Weg hierher zugeschlagen hatte. Es wäre kein Problem gewesen, die Herausgabe der Briefe zu erzwingen. Der Grund, warum er es nicht getan hatte, war die Überlegung, dass Korall ihn zu einem weiteren Akteur des Dramas führen mochte. Doch nun überwogen die Nachteile. Er würde die Briefe an sich bringen müssen, früher oder später, auf jeden Fall in dieser Nacht. Alles andere war zweitrangig.
    Licht aus den Fenstern des Hauses fiel als Raster auf die glitzernden Pflastersteine. Einmal ging jemand im Inneren auf und ab, ein Schemen nur, der einen schwarzen Schatten hinaus in die Gasse warf.
    Fenn wusste, wo Sebastian wohnte; dies war nicht die Adresse, die man ihm gegeben hatte. Die Chancen standen gut, dass er das Haus noch heute wieder verlassen würde. Hoffentlich mit den Briefen. Sonst würde Fenn einbrechen und sie sich holen müssen. Sie durften keine Risiken mehr eingehen. Nawatzki war längst zu weit gegangen, als dass sie sich Nachlässigkeiten hätten leisten können.
    Fenn wartete. Ein Kinderspiel.
    Er blickte wieder auf seine Uhr.

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