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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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stattdessen tat Fenn, was er am besten konnte: Er wartete.
    Nach einer Weile stellte das Tier seinen Widerstand ein. Seine Bewegungen ebbten nicht langsam ab, waren kein Ergebnis körperlicher Erschöpfung; vielmehr sackte die Ratte von einer Sekunde auf die andere in sich zusammen, wie ein leeres Stück Fell, aus dem jemand auf magische Weise jeden Rest von Leben gesaugt hatte. Aber Fenn war kein Magier, und die Ratte war nicht tot. Der Zusammenbruch war Zeichen ihrer völligen Selbstaufgabe, einer Unterordnung unter die überlegenen Kräfte des Stärkeren, wie nur das Tierreich sie in seiner Konsequenz und Endgültigkeit kennt.
    Fenn spürte die hektischen Schläge des kleinen Herzens in seinen Händen. Schwanz und Klauen der Ratte hingen schlaff herunter, ihr Kopf lag flach auf seiner Handkante. Nur in den schwarzen Augen regte sich noch Leben; ihr Blick hatte das stumme Duell wieder aufgenommen. Doch diesmal akzeptierte sie ihn als Sieger.
    Als der Wille seines Gegners erlosch, verlor Fenn das Interesse. Er sah das Tier ein letztes Mal an, jetzt fast mitleidig, dann setzte er es behutsam zu Boden und beobachtete, wie es, geduckt unter der Bürde der Niederlage, in den Schatten verschwand.
    Er streckte seine Hände hinaus in den Regen, bis das Wasser in langen Kristallfäden von seinen Fingern perlte. Dann wischte er sie an seiner Hose sauber, blickte auf …
    … und sah, wie sich die Tür des Hauses öffnete.
    Sebastian Korall erschien im Gegenlicht, zögerte noch einen Moment, dann trat er hinaus ins Unwetter. Er hatte die Schachtel dabei. Regen, Sturm und Hagel peitschten ihm entgegen und umrahmten seinen Körper mit einem Muster aus Wassertropfen. Fenn beobachtete, wie er die Tür schloss, seinen Kragen enger zusammenzog und einige schnelle Schritte in seine Richtung machte.
    Fenn atmete tief durch, dann trat er aus seinem Versteck. Nässe und Wind waren schlimmer, als er befürchtet hatte, und für kurze Zeit kniff er die Augen zusammen.
    Einem Profi hätte dieser Moment für einen Fluchtversuch gereicht. Korall aber nahm ihn nicht einmal wahr. Tatsächlich schien er Fenn erst zu bemerken, als er fast gegen ihn stieß. Selbst durch das Unwetter konnte er die Alkoholfahne des jungen Journalisten riechen.
    Fenn zog seine Waffe aus dem Schulterhalfter und richtete sie auf Koralls Brust.
    »Geben Sie mir das Paket!«, forderte er.
    Sebastian schenkte ihm einen Blick, als stehe er dem Leibhaftigen persönlich gegenüber. Es war keine wirkliche Angst oder Panik in seinen Augen, lediglich bloßes Erstaunen. Jemand bedrohte ihn mit einer Waffe. Weshalb gerade ihn? Warum, um Himmels willen, ihn?
    »Geben Sie mir bitte das Paket!«, wiederholte Fenn. Er wählte absichtlich eine höfliche Formulierung. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass die meisten Menschen darauf schneller reagierten. Sebastian gehörte nicht dazu. Er schien viel zu betrunken, um auf irgendetwas schnell zu reagieren.
    Fenn machte einen Schritt auf ihn zu. Ein knapper Meter lag jetzt noch zwischen ihnen. Ein Meter und eine Mauer aus Regen und Wind.
    »Was … was wollen Sie?« Alkohol und Wetter dämpften Sebastians Stimme zu einem kaum hörbaren Murmeln.
    »Die Briefe«, verlangte Fenn erneut, und diesmal legte er Schärfe in seinen Tonfall. Er warf einen sichernden Blick über Sebastians Schulter hinweg in die Nacht, doch die Gasse war ansonsten immer noch leer.
    »Welche Briefe?«
    Fenn schüttelte mitleidig den Kopf. »Hören Sie auf damit. Geben Sie mir das Paket, und Sie können verschwinden.«
    »Das hier?« Die Hand mit der Schachtel zitterte. Der Journalist musste stockbetrunken sein.
    Fenn dachte an die Ratte. An ihr Zappeln, an ihren erbitterten Widerstand. Wie nachgiebig waren doch dagegen die Menschen. Eine Waffe, eine Drohung, und schon gaben sie auf. Anders als der junge Mann verdiente die Ratte seinen Respekt. Sie war …
    Das Paket zuckte nach vorne, und eine seiner Kanten bohrte sich schmerzhaft in Fenns Handrücken. Reflexartig öffneten sich seine Finger, ließen den Griff der Pistole los. Die Waffe fiel mit einem lauten Scheppern zu Boden und blieb in einer Pfütze liegen.
    Sebastian fuhr herum und hetzte wie von Sinnen davon, während die Wut Fenns Kehle zuschnürte. Er bückte sich, packte die Pistole und folgte ihm. Der junge Mann hatte einen Vorsprung von acht, neun Metern. Er war betrunken, doch nicht so sehr, wie er vorgegeben hatte. Noch hatte er Fenns Unaufmerksamkeit für sich nutzen können. Nicht zu fassen.
    Fenn

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