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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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alten Ohrensessel, der Polizeireporter im Schneidersitz auf dem grauen Steinquader, der einst als Altar gedient hatte. Sebastian hatte die Briefe auf einem Stapel neben sich aufgeschichtet und sah sie der Reihe nach durch.
    »Was denkst du?«, fragte Carsten.
    Sebastian zuckte mit den Schultern. »Nichts. Ich sehe keinen Unterschied, zumindest, was das Schriftbild angeht. Den Inhalt kannst du besser beurteilen.«
    »Da gibt's nichts Auffälliges. Es sieht wirklich so aus, als habe Sandra jeden einzelnen dieser Briefe geschrieben.«
    »Womit wir wieder am Punkt Null wären.«
    »Scheint so.«
    Eine Weile lang saßen sie schweigend da und überlegten.
    »Letztlich würde das bedeuten, dass ihr Mann gelogen hat«, sagte Sebastian dann.
    »Und die alte Frau.«
    »Die Alte auch.«
    Carsten schüttelte den Kopf. »Fällt dir irgendein Grund ein?«
    »Nicht auf Anhieb.«
    Sebastian sprang auf, trat hinter den Altar und holte eine Marlboro-Schachtel hervor. Er fischte eine Zigarette heraus und zündete sie sich an. Carsten stand neugierig auf. Er hatte den Altar für einen massiven Block gehalten, trotzdem schien es dort ein Fach oder einen Hohlraum zu geben. Als er aber den Quader umrundet hatte, war da nichts als die glatte Steinwand.
    »Wie hast du das gemacht?«, fragte er verblüfft.
    Sebastian grinste, offensichtlich stolz darauf, dass er Carsten überrascht hatte. »Großes Geheimnis«, flüsterte er und rollte dabei mit den Augen. Er reichte Carsten die Schachtel.
    »Auch eine?«
    »Danke, nein.« Carsten ging vor dem Altar in die Hocke. Mit den Fingern strich er über die Oberfläche. Nichts. Nicht einmal der Hauch von Fugen oder etwas, das einen versteckten Mechanismus verriet.
    Sebastian lachte. »Darin bewahre ich Sachen auf, die den Rest der Redaktion nichts angehen. Ich hab dir doch erzählt, dass sich irgendjemand an den Schreibtischen zu schaffen gemacht hat.«
    Carsten nickte.
    »Derjenige ist dabei sehr vorsichtig gewesen, aber ich hab's trotzdem gemerkt.«
    »Und was ist so geheim, dass keiner es sehen darf? Gras?«
    Sebastian schüttelte den Kopf. »Papierkram.«
    »Aha.«
    »Ich werde dir später mal davon erzählen.« Er deutete zur Tür. »Gehen wir zurück.«
    Mit einem Achselzucken folgte Carsten ihm ins Freie. Draußen auf dem Hof sagte Sebastian: »Was ist, wenn die Briefe einfach hervorragende Fälschungen sind?«
    »Dann hätte Kirchhoff möglicherweise doch die Wahrheit gesagt.«
    »Es gibt zwei Varianten: Entweder die Schrift bleibt auch nach dem Todesdatum dieselbe, oder aber sie ändert sich. Eines von beidem muss zutreffen. Dann hätten wir auch die Antwort darauf, ob Sandra noch lebt. Wir müssen nur herausfinden, ob die Schrift nach dem 12. Juni 1985 tatsächlich unverändert bleibt.«
    »Und wie?«
    »Kann ich die Briefe bis morgen mitnehmen?«
    »Wenn du mir sagst, was du damit anstellst.«
    »Lass dich überraschen.«
    Carsten hob ergeben die Schultern. »Okay. Von mir aus.«
    Die Kälte kam gegen Abend, beißend und hinterhältig, ohne Rücksicht auf die verblichene Wärme des Nachmittages. Fenn war nicht sicher, ob sie wirklich von außen oder aus seinem Inneren kam. Er spürte, wie ein eisiger Schauer durch seinen Körper lief und sich mit einem blitzartigen Schütteln ans Freie kämpfte. Seine Arme waren von Gänsehaut überzogen, und für einen kurzen, schrecklichen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass sich selbst die Oberfläche seiner Augen zusammenzog; der Blick durch die Windschutzscheibe wurde mit einem Mal diffus und verschwommen. Von einer Sekunde zur anderen setzte ein gnadenloser Regenschauer ein, die Umgebung zerlief zu farblosen Schlieren. Um auch den letzten Rest von Behaglichkeit zu vertreiben, zog ein Gewitter auf, und das Licht des Frühlingsabends wurde von nahezu nachtgleicher Dunkelheit verschluckt.
    Fenn wünschte sich zurück in den einsamen Turm am Rand der Waldschlucht. Seit Stunden stand er hier und starrte auf das alte Redaktionsgebäude. Er hätte einen der anderen schicken können, aber es war an der Zeit, sich selbst ein Bild zu machen – von den dramatis personae und den Kulissen, in denen sie agierten.
    Fenn sah auf seine Uhr. 17.55 Uhr. Im Bürotrakt der Redaktion brannten alle Lichter. Die meisten Redakteure befanden sich noch im Gebäude. Gelegentlich öffnete sich die Eingangstür, und jemand hastete mit verbissenem Gesicht hinaus in den Regen. Die beiden, auf die er wartete, waren noch nicht herausgekommen.
    Fenn hatte den Wagen auf der

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