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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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diesen Bauch vererben.«
    »Meiner schon.«
    »Unglaublich.«
    Auf dem Tisch zwischen ihnen lagen Sandras Briefe. Daneben standen zwei Flaschen. Als Sebastian kam, waren beide noch ungeöffnet; jetzt war der Jim Beam leer, und der Southern Comfort ging ebenfalls zur Neige. In einem klaren Moment war Sebastian zu der Erkenntnis gekommen, dass er und Jonas sturzbetrunken waren. Das war vor einer halben Stunde gewesen. Seitdem hatten sie pausenlos weitergetrunken.
    »Und du bist wirklich sicher?«, fragte er noch einmal und deutete in die Richtung, in der er die Briefe vermutete. Sie verschwammen vor seinen Augen, genau wie alles andere. Jonas war kaum mehr als ein Schemen vor der klobigen Form des Sofas.
    »Ganz sicher.«
    »Hast du eine Ahnung, was es bedeuten könnte?«
    Jonas lallte. »Nicht die geringste.«
    Sebastian nickte langsam und befürchtete, sein Kopf könne ihm dabei von den Schultern rollen. »Dann muss ich …«, begann er, schluckte und setzte von neuem an: »Dann muss ich jetzt zu Carsten.«
    »Damit hast du nicht gerechnet, was?«, fragte Jonas mit vom Alkohol angeheiztem Triumph.
    Das Ergebnis seiner Untersuchung war eine Überraschung. Weder änderte sich die Schrift nach dem 12. Juni 1985, noch waren alle Briefe von derselben Person geschrieben. Tatsächlich war er auf eine dritte Möglichkeit gestoßen.
    »Ich muss jetzt gehen«, sagte Sebastian noch einmal.
    »Aber die Flasche ist noch nicht leer.«
    »Nicht wichtig … Ich muss Carsten Bescheid sagen.«
    »Du bist alt geworden, mein Junge.«
    »Zumindest nicht fett.«
    »Das ist wahr.«
    Sebastian packte die Briefe notdürftig zusammen und legte sie in die Schachtel. Dann stand er auf, taumelte und fragte sich, ob die Tür nicht eben noch auf der anderen Seite des Zimmers gewesen war. Einen Augenblick lang befürchtete er, dass er wieder zurück in den Sessel sinken würde, doch dann fand er sein Gleichgewicht so weit wieder, dass er den Weg Richtung Ausgang einschlagen konnte.
    »Bringst du mich zur Tür?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.
    »Ist das dein Ernst?«
    Sebastian schüttelte den Kopf. »Vergiss es.«
    Jonas blieb sitzen, nickte und sah ihm hinterher. Er drückte seine Zigarette aus und steckte sich eine neue an. »Mach's gut. Und komm mal wieder vorbei.«
    »Klar.« Sebastian stolperte in die Diele. »Und nochmals danke«, rief er.
    Er hörte nicht, ob Jonas eine Antwort gab. Er öffnete die Haustür und sah hinaus. Der Regen war noch stärker geworden und vermischte sich mit harten, kantigen Hagelkörnern. Ein ächzender Wind trieb sie waagerecht durch die Kluft zwischen den Häusern. Der Schock, als sie in sein Gesicht trommelten, klärte einen kleinen Teil seiner vernebelten Sinne. Er taumelte hinaus auf die Gasse und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
    Die Ratte beschäftigte Fenn fast eine Stunde lang. Erst starrten er und das Tier sich an, bewegungslos, lauernd, fast ohne zu atmen. Er blickte in ihre winzigen schwarzen Knopfaugen, und sie beobachtete ihn ihrerseits, unsicher, ob es sich bei ihm überhaupt um ein lebendes Wesen handelte. Ihr dunkles Fell glänzte vor Nässe und sträubte sich an manchen Stellen vor Schmutz. Fenn konnte in der Dunkelheit ihre winzigen Krallen erkennen, kleine scharfe Klingen aus Horn, die bei jeder Regung über das Pflaster schabten.
    Nach fast zwanzig Minuten des Wartens und Beobachtens setzte sie sich in Bewegung, ganz langsam. Mit winzigen, schleichenden Schritten kam sie auf ihn zu, tippte mit der Spitze ihrer langen Schnauze gegen seinen Schuh, schob sie dann noch höher, noch näher an seinen Knöchel. Im selben Augenblick, in dem sich ihre Kiefer zum ersten Biss ins Fleisch seines Schenkels öffneten, schlug er zu.
    Mit einer Bewegung, die selbst für ihre scharfen Instinkte zu schnell kam, ließ er sich in die Hocke fallen, öffnete beide Hände wie die Stahlklauen eines Krans, packte zu und riss den zappelnden Körper in die Höhe. Das Tier schrie, ein hoher, quiekender Laut, und sein Maul verwandelte sich in einen Wirbel aus scharfen, schnappenden Zähnen. Fenn hielt sie mit ausgestreckten Armen weit von sich, während er sich aufrichtete und so weit herumdrehte, dass seine Hände mit dem Tier nicht hinaus auf die Gasse ragten. Die Kiefer der Ratte packten nichts als leere Luft.
    Sehr lang hielt er sie so, selbst wieder zu einer regungslosen Säule erstarrt. Es wäre ein Leichtes gewesen, mit einem einzigen Druck seiner Finger ihr Genick oder Rückgrat zu brechen. Doch

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