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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gegenüberliegenden Seite des Vorplatzes geparkt, sodass der Brunnen einen Großteil des Fahrzeuges verdeckte.
    Die Menschen, die in unregelmäßigen Abständen das Gebäude verließen, waren durch die prasselnden Wassermassen nur noch als vage Umrisse zu erkennen, ihre Gesichter kaum mehr als helle Punkte. Trotzdem war er sicher, dass er die beiden nicht verpassen würde.
    Seine Augen waren geschult. Man hatte ihn darauf gedrillt, selbst unter Wasser winzige Buchstaben entziffern zu können. In einem dunklen Raum versetzte ihn selbst der schwächste Lichtschimmer in die Lage, detaillierte Pläne und Unterlagen zu lesen. Fähigkeiten, die niemand ihm hatte nehmen können. Auch nicht die vergangenen drei Jahre.
    18.11 Uhr. Wieder öffnete sich die Tür, jemand trat ins Freie. Carsten Worthmann. Er war allein, hatte den Kragen seines Mantels hochgeschlagen. Keine Tasche, keine losen Umschläge. Fenn fluchte still vor sich hin. Als Worthmann am Morgen die Redaktion betreten hatte, hatte er die Briefe bei sich gehabt, verpackt in eine graue Schachtel. Jetzt verließ er das Haus ohne sie. Demnach hatte er sie in der Redaktion zurückgelassen, oder ein anderer trug sie bei sich. Das Mädchen vielleicht, diese Sekretärin? Oder – und der Gedanke erfüllte ihn mit plötzlicher Wut – eine der Personen, die bereits früher hinausgegangen waren? Das würde bedeuten, dass Worthmann aus irgendeinem Grund Verdacht geschöpft und die Briefe direkt unter seinen Augen hinausgeschleust hatte.
    Fenn verwarf diesen Gedanken. Worthmann war arglos. Nawatzkis Leute mochten weniger zurückhaltend vorgehen als er selbst, und Worthmann mochte ihre Anwesenheit vermuten; was aber ihn, Fenn, anging, so war er ahnungslos.
    Einen Moment lang überlegte er, ob er ihm folgen sollte, dann entschied er sich dagegen. Es blieb eine dritte Möglichkeit: Jemand würde nach ihm mit den Briefen herauskommen. Fenn blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.
    Konnte es sein, dass Michaelis das Paket an sich gebracht hatte? Nein, überlegte er, es war in seinem und Nawatzkis Interesse, dass Worthmann anhand der Briefe weiter recherchierte. Sie würden sie ihm niemals abnehmen. Schließlich war das der Grund, weshalb Fenn selber hier war: Die Briefe mussten verschwinden, damit Worthmanns Nachforschungen ergebnislos blieben. Zu seinem eigenen und ihrer aller Besten. Nur so konnten sie Nawatzkis Pläne durchkreuzen.
    18.25 Uhr. Ein junger Mann mit runder Brille verließ die Redaktion. Fenn rutschte tiefer hinters Steuer. Er erinnerte sich an ihn. Sebastian Korall, der Polizeireporter. Unter dem rechten Arm trug er die Schachtel. Also doch.
    Fenn wartete ab, bis er den Platz überquert hatte und zu Fuß in einer der angrenzenden Straßen verschwunden war. Dann startete er den Wagen und folgte ihm in weitem Abstand durch die Dunkelheit.
    Jonas Brabach wohnte in einem winzigen Fachwerkhaus, dessen Umrisse sich über die Jahre hinweg verformt und verzogen hatten. Sebastian fragte sich, wer wem nacheiferte; das Haus dem Besitzer oder der Besitzer dem Haus. In Anbetracht der Jahrhunderte, die das Gebäude auf dem Buckel hatte, tippte er auf die zweite Variante. Das Haus stand schon schief, bevor Jonas' Urgroßeltern das Licht der Welt erblickten. Jonas dagegen verdankte seine eigene Schräglage und die ausufernden Körperformen seinem Alkoholkonsum. Mochte sein, dass er damit verhindern wollte, dass es ihm genauso erging wie seinen vier Wänden – zumindest, was das Altern betraf.
    Das Haus lag in einer schmalen Gasse, nicht weit entfernt vom Marktplatz. Die Anwohner mussten ihre Autos auf einer schlammigen Fläche an der Gassenmündung abstellen und das letzte Stück zu Fuß gehen. Die Wände standen hier viel zu dicht beieinander, als dass ein Wagen ohne anzuecken hindurchgepasst hätte. Während Sebastian über das vor Nässe glänzende Pflaster ging, wandte er den Blick nach oben. Die Giebel der alten Häuser schienen sich einander zuzubeugen, flüsternd, verschwörerisch, versunken im Austausch ihrer Geheimnisse. Über ihnen wogte das Gewitter mit seinen schwarzen Wolkenstauden und pumpte Schauer um Schauer hinab auf die Erde. Als Sebastian endlich Jonas' Haustür erreichte, war er nass bis auf die Haut.
    Er klingelte. Jonas ließ sich Zeit. Sebastian nahm an, dass sein Freund in der Küche stand und vor lauter Begeisterung über seine eigenen Kochkünste das Klingeln überhörte. Ein zweites Schellen, ein drittes. Dann öffnete sich die Tür.
    »Lieber

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