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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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18 Uhr 58.
    Nur wenige Zentimeter vor ihm prasselte der Regen vom Himmel, dicht wie ein gläserner Vorhang. Zu seinen Füßen raschelte etwas. Als er hinabsah, starrten ihn zwei winzige Augen an. Ein langer Schwanz aus rohem Fleisch ragte wie ein rosafarbener Wurm hinaus ins Dämmerlicht der Gasse. Ein Blickduell. Fenn und die Ratte.
    Es gab vieles, das Carsten durch den Kopf ging, während er den Wagen durch Tiefental lenkte. Er hatte Nina gesagt, er würde sie um acht abholen, und jetzt war es nicht einmal Viertel vor. Er hatte es nicht länger ausgehalten, zu Hause herumzusitzen, den Fernseher anzustarren und dem jammernden Kind in der Wohnung über ihm zuzuhören. Eine Weile hatte er geglaubt, er könne sich beschäftigen, indem er Pläne für die Einrichtung seiner Wohnung schmiedete. Doch als er von Raum zu Raum ging und sich Möbelstücke vorstellte, wurde ihm klar, dass ihm die kargen Wände gar nicht so schlecht gefielen. Vielleicht, weil er sich ein wenig von dieser Leere auch für seinen Kopf wünschte.
    Egal, in welche Richtung er dachte, stets ging ein Feuerwerk von Gedanken, Ängsten und Befürchtungen hinter seiner Stirn los. Sandras Name wurde zum Stichwort für ein Chaos aus Hoffnungen und Sorgen, wirren Erinnerungen, die sich vermischten mit den Bildern, die Kirchhoffs Erzählungen in ihm geweckt hatten. Sandras Unfall, die weiß gekachelte Leichenhalle. Die Pathologen in ihren grünen Kitteln.
    Die Briefe.
    Immer wieder die Briefe.
    Mochte der Himmel wissen, was Sebastian damit vorhatte. Er hoffte nur, dass es irgendein Ergebnis bringen würde. Eine, wenigstens eine einzige verlässliche Aussage in diesem Wust aus Möglichkeiten, Zweifeln, Fragen und Wahrheiten, die ebenso Lügen sein mochten.
    Er fand eine Parklücke gleich vor Ninas Haustür. Bei dem Regen war er mehr als dankbar dafür. Die Haustür stand offen, deshalb klingelte er erst oben vor ihrer Wohnung.
    Nina öffnete, lächelte, als sie ihn erkannte, und grüßte fröhlich. Sie trug eines ihrer fünf Dutzend Sweatshirts, das bis knapp auf ihre Oberschenkel fiel. Sie war barfuß, die langen Beine nackt. Carsten gab sich alle Mühe, seinen Blick nicht länger als für einen kurzen Moment darauf ruhen zu lassen. Natürlich bemerkte sie es trotzdem.
    Sie drehte sich um und verschwand im Schlafzimmer. »Ich muss mich noch fertigmachen«, rief sie hinaus. »Zwei Minuten.«
    »Lass dir Zeit.«
    Er ging ins Wohnzimmer – nicht, ohne im Vorbeigehen noch einen weiteren Blick durch die offene Schlafzimmertür auf ihre unglaublichen Beine zu werfen – und sah gedankenverloren ihre Plattensammlung durch.
    Eine Viertelstunde später führte sie ein Kellner in einem italienischen Restaurant an einen Tisch direkt neben dem Fenster. Darauf stand eine Vase aus imitiertem China-Porzellan.
    »Geschmackvoll«, kommentierte er, nachdem der Kellner sie mit den Speisekarten allein gelassen hatte.
    Nina zog eine sarkastische Grimasse. »Bei euch in Edeldeutschland sind selbst die Blumenvasen schöner.«
    Ganz richtig, wollte er erwidern, fragte sich aber gleichzeitig, ob Arroganz die beste Taktik war.
    Taktik wofür? Mit welchem Ziel? Sie ins Bett zu bekommen? Das kann nicht dein Ernst sein. Du hast schon genug Probleme. Denk an Sandra.
    Aber Sandra ist tot.
    Sie musterte ihn misstrauisch. »Stimmt was nicht?«
    »Kannst du dir das nicht vorstellen?«
    »Die Briefe«, stellte sie fest.
    Er nickte. »Ich denke seit zwei Tagen an nichts anderes.«
    »Kann ich verstehen. Nur – bringen wird es dir nicht viel.«
    »Aber es muss eine Erklärung dafür geben.«
    »Die sind wir schon alle durchgegangen. Warte ab, was Sebastian herausfindet.«
    »Er hat mir nicht mal gesagt, was er vorhat.«
    »Ich nehme an, er wird sie Jonas zeigen.«
    »Jonas?«, fragte er.
    »Ein Schriftsachverständiger der Polizei. Einer, der Abschiedsbriefe auf ihre Echtheit prüft, Urkunden untersucht und so weiter. Wenn irgendwer herausfinden kann, ob an diesen Briefen etwas faul ist, dann er.«
    Der Kellner kam und nahm ihre Bestellung auf.
    Jonas rauchte Zigaretten, die rochen wie Asphaltiermaschinen. Kurz nach halb zehn steckte er sich die sechzehnte an. Sebastian hatte mitgezählt.
    »Warum rauchst du so viel von diesem Zeug?«
    »Sie halten schlank.«
    »Findest du?«
    Jonas ließ lachend eine Hand auf seinen Bauch sinken. »Sag nicht, ich sei dick.«
    »Nein, du bist fett, Jonas. Wirklich fett.«
    Wieder lachte Jonas. »Das liegt in der Familie.«
    »Kein Vater würde seinem Sohn

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