Schweigfeinstill
war ein harter Knochen, aber wer sie gut genug kannte, wusste, dass sie nah am Wasser gebaut hatte. Ihr kamen öfter die Tränen, und sie setzte alles daran, sich nichts anmerken zu lassen.
»Andy erhofft sich also, dass du ihm eine Stimme gibst?«, fragte sie schließlich.
So treffend hätte ich es nicht sagen können. Andy hatte mich gebeten, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Für seine Frau, aber vor allem für seine Tochter. Es war mühsam, mit ihm ein Gespräch zu führen. Das meiste musste ich selbst formulieren und ihn fragen, ob er es so gemeint hatte. Andys Konzentration reichte gerade mal für eine Stunde. Das war wenig bei einem Projekt wie diesem. Für eine anständige Autobiografie verbrachte ich durchschnittlich 40 bis 50 Interviewstunden bei einem Kunden, allerdings vier oder fünf Stunden am Stück, sodass ich im Schnitt zehn Gesprächstermine ausmachte. Bei Andy konnte ich so nicht rechnen. Ich war oft in München bei den Steinfelders, saß auf dem Sofa und hörte Andy zu. Er gab sich viel Mühe, aber wir würden uns noch viele Male treffen, um alles zusammenzukriegen, was er loswerden wollte. Seine Frau war nie dabei. Aber seine Tochter schaute ab und zu rein und half mir, Andys verstümmelte Sätze zu entschlüsseln. Juliane hatte es erfasst: Ich war Andy Steinfelders Stimme, und unser Buch würde etwas Materielles sein, das er in der Hand halten konnte, um sich seines Lebens zu vergewissern.
»Was kann am Leben eines Aphasikers so interessant sein, dass dir jemand deine Daten raubt?«
Ich betrachtete Julianes Gesicht. Die fedrig geschnittenen, kurzen weißen Strähnen, die ihr in die Stirn fielen. Den rot geschminkten Mund, den energischen Lidstrich, der in den 60ern des vergangenen Jahrhunderts der letzte Schrei gewesen war. Die prallen 76 Jahre voller Lust und Leben, zeitgeschichtlicher Schleifen und politischer Standfestigkeit.
»Habe den ganzen Tag gegrübelt. Keine Ahnung.«
»Findest du einen Verlag für dieses Projekt?«
Ich zuckte die Schultern.
»Möglich ist alles. Elend und Schmerz verkauft sich immer gut. Aber Andy ist nicht in erster Linie an einer Veröffentlichung interessiert. Er will das Buch für sich haben.«
Wir waren eine Weile still.
»Vielleicht waren nicht meine Aufzeichnungen zu Andy das Ziel«, sagte ich schließlich und griff nach der Teewurst.
»Nein. Mag sein«, erwiderte Juliane. Sie musterte mich auf ihre direkte Art, und ich konnte ihr dabei nicht ins Gesicht sehen. Begnügte mich mit dem Anblick des alten Che. Der ja nie alt geworden war. Im frühen Tod schlummerte auch ein Vorteil. Das Andenken gehörte einem Menschen ohne Falten und Inkontinenz. Aber an den Tod wollte ich nicht denken. Sobald nur ein einziger Gedankensplitter den Begriff ›Tod‹ berührte, sah ich meine eigene Endlichkeit, das viele Blut, die Kälte, die meinen Körper in einer stählernen Klammer hielt, und die Angst vor dem Schmerz, die sich mischte mit der Resignation, dass nun alles vorbei sein würde.
»Die Bullen haben dir das nicht gesagt, nehme ich an«, sagte Juliane, »aber eines ist klar: Die Kerle waren mindestens zu zweit. Denn ein Toter kann das geklaute Notebook und die anderen Unterlagen nicht aus dem Wagen hexen.«
6.
Der Mann steht vor dem Spiegel und mustert sein Gesicht. Ein halbes Gesicht, denkt er. Aber er hat Glück gehabt: Die Lähmung hat sein Gesicht nicht erfasst. Nur seinen Körper. Mit dem Bein geht es schon wieder ganz gut. Zu Hause kommt er sogar ohne Stock klar. Am Anfang war er ein Jahr lang auf den Rollstuhl angewiesen. Wenigstens hat er darauf bestanden, mit der Physiotherapie weiterzumachen, obwohl Gina die Hoffnung aufgegeben hatte. Nun sieht er die Erfolge. Das Bein funktioniert beinahe einwandfrei. Aber der rechte Arm hängt leblos an seiner Seite. Andy Steinfelder blickt verächtlich auf die verkrampften Finger. Selbst damit könnte er leben. Er versucht ein Lächeln. Das Spiegelglas schickt eine Grimasse in den düsteren Flur. Er ist müde. Er hat ferngesehen. Andy sieht meistens fern. Viel zu tun gibt es für ihn nicht. Am Wochenende hat er keine Therapien, die ihn unter der Woche aus der quälenden Eintönigkeit reißen.
»Jenny?«, ruft er. Mit Jenny sitzt er manchmal am Computer. Sie hilft ihm, sich im Internet zurechtzufinden. Weil er kaum lesen kann, schafft er es nicht allein.
Seine Tochter öffnet ihre Zimmertür. »Was ist? Warum stehst du im Dunkeln, Papa?«
Andy Steinfelder geht auf sie zu und nimmt sie in den gesunden linken
Weitere Kostenlose Bücher