Schweigfeinstill
München. Ich musste einfach herausfinden, ob meine Reservesicherung noch an Ort und Stelle war. Aber was, wenn jemand auch dort … Ich unterbrach meine destruktive Denke. Nach so einem Tag wie heute war es kein Wunder, wenn ich durchdrehte. Bevor ich den Schlüssel ins Zündschloss steckte, schaltete ich mein Handy an. Es meldete eine Nachricht auf der Mailbox.
Herzchen, die Bullen waren bei mir. Würdest du mich freundlicherweise anrufen und mir mitteilen, was das zu bedeuten hat?
Juliane Lompart den Wunsch nach Information abzuschlagen, kam einem Vaterlandsverrat gleich. Seufzend ließ ich den Motor an und wendete. Hinter dem hell erleuchteten Küchenfenster sah ich Carlo stehen. Er winkte nicht.
5.
»Zwei Bullen«, sagte Juliane und stellte eine Platte mit Aufschnitt und einen Korb Brötchen auf den Tisch. Warum meinten nur alle, mich mästen zu müssen? Verhungert sah ich wirklich nicht aus.
Neben unseren Tellern hockte die allgegenwärtige Flasche. Kubanischer Treibstoff, wie Juliane sagte. Ich hatte sie im Verdacht, von dem Rumverschnitt gar nichts zu trinken. Sie benutzte ihn eher als Abzeichen, als Wappen der karibischen Arbeiterklasse.
Juliane schleuderte zwei Visitenkarten auf meinen Teller. Polizeihauptkommissar Peter Jassmund. Das war der Nette. Polizeihauptkommissar Nero Keller. Der Mann mit den Torfaugen und dem Notizbuch. Während ich mein Brötchen mit Lyoner belegte, erzählte ich alles noch einmal. Schaute währenddessen Che Guevara an, der Julianes Brust zierte. Juliane war dünn wie ein Strich. Dabei aß sie wie ein Scheunendrescher. Sie musste eine begnadete Schilddrüse haben.
»Sie wollten alles wissen. Wann ich dich heimgefahren habe und warum du nicht selbst fährst, warum ich nicht mit zu dir ins Haus kam und warum ich auf Alkohol verzichte und dich fahre. Ich habe geantwortet, dass ich eine karitative Ader hätte.« Juliane goss mir Kaffee ein. In wenigen Minuten würde mein Herz implodieren. »Schwarz?«
Ich nickte. Das hatten Juliane und ich gemeinsam: Wir tranken den Kaffee schwarz wie die Nacht. Juliane schob eine angebliche Laktoseunverträglichkeit vor, aber ich hatte eher den Verdacht, dass sie Milch und Zucker ablehnte, um jugendliche Härte zu beweisen.
Ich fing an zu erzählen. Obwohl ich es nicht wollte, aber bei Juliane konnte ich mich nicht verstellen. Es mochte bei Carlo so leidlich funktionieren, bei meiner Mutter und Janne ein wenig leichter vonstatten gehen. Doch bei Juliane war Leugnen aussichtslos.
»Er heißt Andy.«
»Dein Neuer?«
Eine eherne Regel meines Metiers lautete, während der Arbeit an einem Projekt nicht über den Kunden und das Buch zu sprechen. Es könnte den eigenen Eindruck verwischen. Doch was sollte es. Juliane war mit ihrer Klugheit und Hintergründigkeit keine normale Gesprächspartnerin.
»Mein Auftraggeber. Andy Steinfelder, 50 Jahre alt. Seit einem Schlaganfall vor sechs Jahren ist er halbseitig gelähmt und Aphasiker.«
»Was heißt das?« Julianes Augen bohrten sich in meine.
»Durch den Schlaganfall wurde das Sprachzentrum in seinem Gehirn geschädigt. Andy kann sich nur bruchstückhaft verständigen, mit einzelnen Wörtern, die er in den Raum schleudert, als täte er sich weh dabei. Aphasie ist was anderes als Stottern. Der Sprachverlust ist tiefer, auf der Ebene der Nervenzellen im Gehirn. Er hat ein Problem mit dem Konzipieren einer Äußerung, nicht mit der Aussprache.«
»Wir unterhältst du dich dann mit ihm? Schreibt er alles auf?«
»Andy kann nicht schreiben und nur wenig lesen. Das hat nichts mit seinen Augen oder seiner gelähmten Hand zu tun. Er töpfert zum Beispiel mit links. Die Hirnregion, in der wir die Buchstaben enträtseln und unserer Hand den Befehl geben, Sätze zu schreiben, ist schwer gestört.«
»Das ist die reinste Einzelhaft!« Juliane nestelte an ihren Kreolen.
»Totale Isolation. Andy braucht quasi immer einen Dolmetscher. Jemanden, der ihn gut genug kennt, um zu verstehen, was er meint.«
»Ist er verheiratet?«
Das war typisch. Juliane kam in rasendem Tempo auf Beziehungen zu sprechen. Sie hatte selbst eine Menge Männer in ihrem Leben gehabt. Hatte sie in die Pilze geschickt oder sie schlicht überlebt. Das wäre eine Kerbe, in die KHK Keller schlagen könnte.
»Seine Frau heißt Gina und arbeitet in München als Wohnungsmaklerin.«
»Wenigstens ist der finanzielle Fortbestand der beiden gesichert.«
»Sie haben auch eine Tochter. Jenny. 14 Jahre alt.«
Juliane schwieg eine Weile. Sie
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