Schweigfeinstill
beiseite. Ich hatte zwei Möglichkeiten: mit der Arbeit anzufangen oder nach München zu fahren.
Ich entschied mich für Ersteres. Es mochte an dem Nieselregen liegen, der eine Autofahrt nicht besonders ansprechend erscheinen ließ. Also marschierte ich ins Arbeitszimmer, legte einen Stapel leere Blätter bereit und griff zu einem Bleistift. Die grünen Faber-Castell Bleistifte der Stärke HB waren mein liebstes Schreibgerät. Ich besaß ein ganzes Arsenal davon, spitzte sie gewissenhaft auf Vorrat an, um stets eine ausreichende Anzahl einsatzbereit zu haben, und warf die zu kurzen mit Herzweh in den Müll. Also los. Dem leeren Blatt wohnte Magie inne, und doch entschlüpfte ihm manchmal so etwas wie eine Drohung. Die Angst, zu versagen, das Blatt mit Blödsinn zu verunzieren, wuchs, sobald man auf dem Schreibtischstuhl Platz genommen hatte. Ich räusperte mich. Das Geheimnis des Schreibens besteht in der Kunst, seinen Hosenboden mit einer Sitzfläche in Verbindung zu bringen, hatte Kingsley Amis die Welt wissen lassen. Womit er zweifelsohne richtig lag.
Ich fing an zu arbeiten. Mein Gehirn destillierte Erinnerungsschnipsel, und das Adrenalin überlistete die cleveren kleinen Gedächtnisfilter, die Unerhebliches von Ungewöhnlichem trennten, noch bevor es unserem Bewusstsein zugänglich war. Eine Art Müllsortierung zwischen den Schädelknochen. Meine innere Laterna magica spielte die Gespräche ab, die ich mit Andy geführt hatte. Auf einem Zettel notierte ich die Hauptpunkte, die mich durch den Text führen würden, dann legte ich diesen beiseite und schrieb erste Textfragmente, die die Inhalte unseres letzten Gesprächs auf den Punkt brachten. Man konnte nie alles aufschreiben. Irgendwie vereinfachte der Autor die Wirklichkeit. Das hatte ich schon als Makel empfunden, als ich noch für Zeitungen und Magazine schrieb. Inzwischen, da ich das Leben individueller Menschen nachzeichnete, gewöhnte ich mich daran. Auch meine persönliche Erinnerung gab eine vereinfachte und letztlich eingebildete Struktur meines Lebens wieder.
Irgendwann schaltete ich die Schreibtischlampe an und vergaß, mich um meine Beklemmung und die Gefühle zu kümmern, die der tote Mann in dem Blechhaufen in mir ausgelöst hatte. Um vier packte ich die Blätter zusammen. Ich stopfte sie mit einem Notizbuch und einem Federkasten in meine Schultertasche.
Nach einem kurzen Rundgang zu Waterloo und Austerlitz machte ich mich auf den Weg zu Carlo Fidelio. Es wurde dunkel, als ich meinen Wagen an dem Betonpfeiler vorbeisteuerte, der das ganze Chaos bis auf einen schwärzlichen Fleck unbeschadet überstanden hatte. Die Überreste des Unfallautos waren zur kriminaltechnischen Untersuchung abtransportiert worden. Ich bog nach rechts Richtung Ohlkirchen ab. Wenn man wie ich so weit draußen wohnte, musste man einige Nachteile in Kauf nehmen. Beispielsweise war man für jede Besorgung auf das Auto angewiesen. Im Sommer und Herbst hatte mir das nicht so viel ausgemacht, aber nun, in der Dezemberschwärze, die jedes Licht ins Universum hinaussaugte, schnitt ein kaltes Skalpell mich von allem Leben ab. Der böige Wind blies Reste von Laub in die Lichtkegel meiner Scheinwerfer. Die Äste der Bäume am Straßenrand wucherten in mein Blickfeld. Kurz fragte ich mich, ob sie wirklich lebende Organismen waren oder wenigstens irgendwann zu solchen erwachen würden, oder ob sie die Geister von Toten beherbergten, die unschuldige Frauen ins Reich der Finsternis riefen. Ich war ausgepowert. Kein Wunder also, wenn meine Fantasie kurzfristig ausscherte.
Der Barkeeper des Piranha lebte wohlweislich nicht direkt neben seinem Arbeitsplatz, sondern einige Kilometer weiter, in Seelbach. Noch kleiner als Ohlkirchen und nur über eine schmale Straße an die Zivilisation angeschlossen. Hier baumelten die Telefonleitungen noch an Masten über der Erde. Wie Carlo in der Dorfgemeinschaft bestehen konnte, war mir nie ganz klar geworden. Er war schwul, er schlief, wenn andere arbeiteten, und er hatte die Farbe von sehr milchigem Milchkaffee, die ihm seine eritreische Mutter hinterlassen hat. Das Häuschen gleich am Ortseingang hatte er vor Jahren günstig gekauft. Wir werden doch alle spießig, dachte ich, während ich meinen Alfa Spider an der Straße parkte. Das Gartentor schlug im Wind. Die Dunkelheit fraß den kurzen Weg von der Straße zur Haustür förmlich auf; ich beeilte mich. An der Tür klebte ein Schild mit Carlos bürgerlichem Namen: Karl Schöll.
»Soso, Kea«,
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