Schweigfeinstill
Arm. Das fühlt sich gut an. Er liebt seine Tochter. Sie hat sich erstaunlich schnell daran gewöhnt, einen kranken Vater zu Hause zu haben. Gina scheint sich ebenfalls damit ausgesöhnt zu haben. Auf ihre Art, verbittert, selbstironisch, ungeduldig. Immerhin ist Andy nun Hausmann. Gina hat genau das gewollt: eine Karriere, ein Leben außerhalb der eigenen vier Wände. Sie verdient ja gut. Die Steinfelders leben in einer schönen Villa in Bogenhausen. Hier kann man sich wohlfühlen, zumindest vordergründig, die Nachbarn sind nett, alle kennen Andys Situation und haben sich darauf eingestellt. Was sie untereinander reden, weiß Andy nicht. Er will es nicht wissen, denn er kann es sich denken. Hört ihr Mitleid raunen und die unausgesprochene Frage, ob es nicht besser wäre, wenn er an dem Schlaganfall gestorben wäre.
»Internet?«, fragt er und weist mit dem Kinn auf Jennys Computer. Sie macht sich aus seinem Arm los und schüttelt den Kopf.
»Ich mache Hausaufgaben.«
Andy nickt. Am schulischen Leben seiner Tochter kann er nicht teilhaben. Er kann nicht mit den Lehrern sprechen, an Elternabenden nicht das Wort ergreifen, Jennys Zeugnisse nicht lesen.
»Internet?«, fragt er noch mal.
»Willst du ins Internet?«
»Ja!« Er will sagen, natürlich nur, wenn du mit den Hausaufgaben fertig bist und dann noch Lust hast, es muss nicht jetzt sein. Aber er kann es nicht. Die Gedanken in seinem Kopf treten glasklar hervor. Doch irgendwo zwischen den Gehirnstrukturen, die die Gedanken formen, und jenen, die Sprache daraus machen, klafft ein unüberwindlicher Abgrund. Andy findet die Wörter nicht, manchmal fliegen ein paar vorbei, die er schnell festhält, auch wenn sie nicht passen. Oft irren in seinem Kopf Wörter herum, die es gar nicht gibt, alle schauen betreten drein, wenn er sie ausspricht. Jenny bemüht sich, diese fremden Dschungelwesen aus sinnlosen Silben zu entschlüsseln, aber selbst ihr gelingt es nicht immer. Andys Mund spult genau diese Eindringlinge immer wieder ab, er kann nicht aufhören. Die Sprachtherapeutin hat ihm erklärt, dass dies typisch wäre für seine Form der Aphasie. Das hartnäckige Festhalten an Äußerungen, die er selbst als Fälschungen erkannt hat, liegt daran, dass in seinem Kopf ein Mechanismus versagt, der jene Wörter aussortiert, die nicht gebraucht werden.
»Zeit«, sagt Andy hoffnungsfroh und hält die linke Hand hoch, damit Jenny auf seine Uhr schaut.
»Es ist kurz nach acht«, sagt Jenny.
»Nein.« Er lacht hilflos. »Zeit – Internet.«
»Ob ich Zeit habe, ins Internet zu gehen?«
»Genau!« Jedes Gespräch ist eine Steilwand, die Andy in Sandalen zu erklimmen versucht.
»O. k. Wenn ich fertig bin mit den Hausaufgaben, gehen wir ins Internet.«
Andy nickt und tippt mit dem linken Zeigefinger auf Jennys Nase. Sie weicht aus, wie alle Teenager das machen, wenn die Eltern Zuneigung zeigen. Er wünscht sich, dass der Schlaganfall und seine verheerenden Folgen Jennys Kindheit nicht zu sehr umschatten.
»Mama Konzert?«
»Ja. Mama ist im Konzert. Mit ihrer Kollegin.« Jenny schaut sich nach ihrem Rechner um. Ein Bildschirmschoner zeigt ein Spukschloss, in dem allerhand passiert. Eulen flattern um Schornsteine, aus Kaminen gleiten Geister.
Andy Steinfelder geht zurück ins Wohnzimmer. Er setzt sich hin, ohne Licht zu machen, und nimmt die Fernbedienung für den Fernseher in die gesunde Hand.
7.
Die Nacht fraß die Straße. Angespannt steuerte ich den Wagen über Gräfelfing nach München. Nachts zu fahren, ermüdete mich, und mit all der Erschöpfung hinter den Augen empfand ich nichts als Unlust gegen die spiegelnden Lichter, die auf den nassen Straßen schwammen. Genauso wenig mochte ich die Häuser rechts und links. Sie schienen auf mich zuzurücken, wann immer ich an einer Ampel halten musste, und ich ertappte mich alle paar Minuten bei einem angespannten Blick in den Rückspiegel.
Mein Leben als Landei war nur eine Seite meiner Persönlichkeit. Ich war zwar Eigentümerin einer zu 70 Prozent bewohnbaren Baustelle in einer Talfalte zwischen zwei winzigen Orten südwestlich von München, doch so ganz hatte ich mich von meinem alten, mondänen Leben nicht verabschiedet. Das ging niemanden etwas an, deshalb hielt ich das mikroskopische Zimmer in einer Schwabinger WG quasi anonym. Zwei Frauen bewohnten die Vierzimmerwohnung in der Hohenzollernstraße: Rabea verdiente ihre Brötchen als gestresste Sozialarbeiterin in der Brennkammer der Großstadt, und Myrthis
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