Schweigfeinstill
arbeitete als Informatikerin im Atom-Ei in Garching, das sie selbst penetrant ›Forschungsreaktor‹ nannte. Vor ein paar Monaten hatten die beiden per Inserat eine Untermieterin gesucht, um ihr Budget aufzubessern, und aus der Bewerberschar mich ausgewählt. Ich war in Schwabing nicht offiziell gemeldet. Selbst Janne wusste nichts von dieser Zweitwohnung. Ältere Brüder verdienten zwar einen Vertrauensvorschuss, und mit Janne verstand ich mich prächtig. Wir waren altersmäßig fünf Jahre auseinander, sahen uns recht ähnlich, hatten beide schwarzes Haar und trugen es lang, wobei ausgerechnet Janne auf zarte Locken stolz sein durfte, während Mama Natur mir die glatten Strähnen mitgegeben hatte. Janne neigte auch nicht zu Übergewicht wie ich. Wenngleich wir einander vertrauten und uns in- und auswendig kannten, hatte ich Janne nie von dem WG-Zimmer erzählt. Eigentlich erzählte ich ihm in letzter Zeit nicht allzu viel. Ein ungewohntes Schweigen hatte sich eingeschlichen, aber ich ging davon aus, dass diese Phase dem beruflichen Stress geschuldet war. Seinem und meinem.
Ich war kein großes Orientierungstalent. Mein Alfa besaß kein Navigationsgerät, und im Dunkeln zu fahren und gleichzeitig den Stadtplan zu lesen, kriegte ich bei all der Nervosität, die in meinen Adern kochte, nicht hin. Deswegen verfuhr ich mich prompt, bis ich endlich die richtige Richtung erwischte und auf den Isarring einbog. Unter mir lag der Englische Garten in trüber Beschaulichkeit. Nur ein Loch aus Schwarz, gestanzt in die glitzernden Stadtlichter. Nun kannte ich mich besser aus. Münchener Freiheit war für viele ein Synonym für eine Band aus fünf kreativen Typen, die in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts mit bayerischer Popmusik ins Geschäft kamen. Für mich stand Münchener Freiheit vor allem als Wegmarke an der Leopoldstraße, die mir half, mich im Großstadtdschungel zurechtzufinden. Ab hier verirrte ich mich nicht mehr.
Selbst mitten in der Stadt fand der Wind ausreichend Angriffsfläche. Die Weihnachtsbeleuchtung schaukelte hin und her, und Müllreste fegten vor mir über die Fahrbahn. Ich nahm einem Taxi die Vorfahrt und erntete prompt wildes Hupen und böse Beschimpfungen, deren Unflätigkeit rein optisch ausreichend rüberkam. Ich fand direkt in der Hohenzollernstraße eine Parklücke. Für schlappe zwölf Minuten verlangten sie hier 20 Cent, und das bis nachts um elf, aber darauf kam es nicht an. Mit zitternden Fingern schloss ich den Wagen ab. Trotz der Kälte begann ich zu schwitzen. Ich rannte knapp vor einer Trambahn über die Straße und zückte den Hausschlüssel.
Hinter mir hupte es, laut wie ein amerikanischer Truck.
»Sitzt dir der Arsch in den Nesseln?«, blökte der Taxifahrer von eben. »Nimm mal ein paar Fahrstunden, du Anfängerin, du saublöde!« Als Verkehrsteilnehmerin durfte man in München keine Zimperliese sein. Ich zeigte ihm einen Vogel und verschwand im Haus, einem vierstöckigen Bau mit versmogter gelber Fassade und eigentlich ganz hübschen Verzierungen, die ich für Jugendstil hielt. Ich stürmte die Treppen in den zweiten Stock hinauf und rammte den Wohnungsschlüssel ins Schloss.
»Hallo?«, rief ich halblaut in die dunkle Wohnung. »Rabea? Myrthis? Ich bin’s, Kea!«
Keine Reaktion. Es war niemand hier. Meine beiden Mitbewohnerinnen suchten Ablenkung in den zahlreichen Kneipen der Umgebung. Das war etwas, was mir in meiner Einsiedelei wirklich fehlte: einfach spontan um die Häuser ziehen zu können. Früher hatte ich das gerne gemacht. Früher. Naja. Als ich noch eine intakte Frau war, ohne Albträume und schwarzgetuschte Erinnerungen.
Ich machte Licht. Sofort sprangen mich die Wände an. Das war die Kehrseite des Stadtlebens. Das Gefühl, von Mauern erdrückt zu werden. Ich ging in die winzige Küche, in der sich die Reste einer Kochsession stapelten, und riss das Fenster auf. Eine Straßenbahn ratterte vorbei. Von meinem Taxifreund war nichts mehr zu sehen. In der Wohnung gegenüber lief der Fernseher. Ich stand eine Weile da und guckte in die Nacht, während mir der Wind um die kalte Nase fegte.
Schließlich konnte ich den Augenblick der Wahrheit nicht länger hinausschieben. Mein Zimmerchen lag ganz am Ende des Korridors. Darin standen ein Bett, ein kleines Schulpult, ein kuscheliger Sessel. Mehr passte nicht hinein. Ich holte tief Luft, machte Licht, ließ die Rollos herunter. Hockte mich auf den Boden vor den Sessel und zückte mein Schweizer Taschenmesserchen.
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