Schweigfeinstill
Journalistik studiert, aus Interesse, aber auch aus Widerspruchsgeist gegenüber meiner Mutter, die mir etwas Solides aufschwatzen wollte. Also gut, das Reisen und die journalistische Arbeit hatten sich als Falle erwiesen. Ich brauchte etwas anderes. Nun war ich an Andy geraten und in das Gefüge geschlüpft, das sein Leben allmählich zermalmte. Ich hatte Andy an einem Tag besucht, an dem er aufgewühlt war, weil seine 14-jährige Tochter Pornofilme auf ihrem Rechner hatte. Seine Wut konnte ich nicht in der Weise teilen, wie er es erwartete, und so war er davongelaufen. Ich war zu Valeska gefahren und hatte mit ihrer Freundin geredet, die mich für Valeskas Arbeitskollegin gehalten hatte, ohne das Missverständnis aufzuklären. Meine Neugier hatte mich angestachelt und mein Schuldbewusstsein gegenüber Andy, denn ich hatte seinen Wünschen nicht entsprochen. Eine nüchterne Reaktion wäre gewesen, den Auftrag auf Eis zu legen, bis Andy und ich uns auf eine gemeinsame geschäftliche Ebene einigen konnten. Warum war ich darauf nicht gekommen?
Unbehagen und professionelle Gier nach Sensationen hatten mich ins Internetcafé getrieben. Dann in Müllers Limousine. Eine leidvolle Situation brachte eine neue hervor. Ich war gefangen in der Reaktion auf Situationen, die ich nicht herbeigeführt hatte und über die ich keine Kontrolle besaß. Das Schneechaos, der zusammengebrochene Verkehr und das vermaledeite Hotelzimmer waren nur eine Metapher für diese Tretmühle. Wenn ich es recht bedachte, bestand mein ganzes Leben aus lauter solchen ›selbstgewählten‹ Entscheidungen. Sie machten mein Dasein aus. Und dabei musste ich nicht einmal an mein ausgemergeltes Liebesleben denken und all die Kerle, die ich für ein kurzes Vergnügen mit nach Hause genommen hatte. Alles andere war schon grausam genug.
Ich kroch unter die Dusche und seifte meinen barocken Körper mit dem Hotelshampoo ein. Die Männer, mit denen ich von Zeit zu Zeit Sex hatte, protestierten nicht gegen meine Speckfalten und Rundungen. Hatten sie in der Hitze der Schlacht keine Nerven für die Frage nach dem Idealgewicht? Vermutlich verhielt es sich eher so, dass die Modetrends uns einen Geschmack aufoktroyierten, den unser Wille an der Oberfläche nachäffte. Doch im Inneren spürten wir, wie uns ein Mummenschanz vorgeführt wurde, der letztlich nur dazu diente, mit absurden und überteuerten Klamotten ein Heidengeschäft zu machen.
Selbstliebe ist eine starke innere Kraft, die dafür sorgt, dass wir glücklich und zufrieden durchs Leben kommen, hatte Juliane mir eingebläut. Ich ertappte mich bei der Überlegung, welche Meinung Kommissar Keller zu weiblichen Formen haben mochte.
Um kurz nach zehn betrat ich den Frühstücksraum und suchte mir einen Platz hinter einem Panoramafenster. Während ich mir ein Nutellabrötchen strich, überlegte ich, welches Gefühl ich damit in mir gerade zum Schweigen brachte. Plötzlich zweifelte ich an meinen Beweggründen. Warum gab ich einer Lust nach? Warum nahm ich Nutella und keinen Magerquark? Wenn ich wirklich abspecken wollte, warum ging ich das Thema Gewicht nicht an?
Ich trank schnell zwei Tassen Kaffee und aß die Hälfte von dem Brötchen, zahlte meine Rechnung und verließ das Hotel, ohne den brennenden Wunsch zu verspüren, noch einmal hierher zu kommen.
50.
Der Eurocity aus Verona kam mit geringer Verspätung angefahren. Mein Plan stand längst fest. Ich würde bei Valeska vorbeischauen. Vielleicht war es ohnehin geschickt, nicht so bald bei meinem Auto in Bogenhausen aufzutauchen. Keller hatte mich vorgewarnt. Ich würde angeben müssen, dass ich mit Andy kurz vor dem Mord gesprochen hatte. Noch konnte ich behaupten, durch den Wintereinbruch in Rosenheim festgesessen und von dem Mord in Bogenhausen nichts mitgekriegt zu haben.
Als ich um kurz nach halb eins am Münchner Hauptbahnhof aus dem Zug stieg, stürmte ich mit Scharen anderer Hektiker zur U-Bahn. Eine halbe Stunde später klingelte ich an Valeskas Wohnungstür.
»Hallo?«
Ich fuhr herum. Marietta Soltau stand auf dem Treppenabsatz.
»Valeska ist nicht hier.«
»Wo ist sie?«
Marietta sah verstört aus. Sie machte eine Kopfbewegung und ging voraus in ihre Wohnung. Schnell folgte ich ihr.
»Macht es Ihnen was aus, die Schuhe auszuziehen?«
Ich stieß meine Stiefel beiseite. Marietta verschränkte die Arme. Sie hatte Angst.
»Wo ist Valeska?«, fragte ich. Eine sonderbare Beklemmung kroch meine Kehle hinauf.
»Sie ist weg.« Das kam so
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