Schweigfeinstill
Fall wird.«
Nero rieb sich müde den Bart. Ein ungutes Gefühl schlängelte sich durch den Raum, und Jassmund sprach es aus, ehe Nero die richtigen Worte fand: »Fragt sich, warum Sutter uns das alles erzählt hat, oder?«
46.
Nero fuhr nach Hause. Es war kurz vor elf. Die Strecke war leidlich geräumt, und da kaum jemand unterwegs war, kam er gut voran. Jassmunds Frage von vorhin dröhnte in seinen Ohren. Könnte Kea die Autobiografie einer Frau aus dem Milieu schreiben? Warum eigentlich nicht! Aber was hatte das mit Andy Steinfelder zu tun? Sie war seine Ghostwriterin, sagte jedenfalls Andys Frau. Nero parkte an der Straße, stellte den Motor ab und merkte binnen Sekunden, wie es im Auto kälter wurde. Als er ausstieg und mit knirschenden Sohlen über die Schneedecke zu dem Haus ging, in dem er noch übernachtete, aber nicht mehr lebte, entschloss er sich, etwas Ungewöhnliches zu versuchen.
Sigrun Wests Handynummer befand sich unter den Unterlagen, die Woncka ihm bei seinem letzten Besuch im LKA mitgegeben hatte.
»Hallo?«, klang ihre Stimme durch die Nacht.
»Nero Keller.«
»Ach, der neue Kollege.« Er hörte Finger über Computertasten eilen.
»Sie arbeiten noch?«
»Sie nicht?«
»Ich müsste etwas mit Ihnen besprechen.«
»Nicht am Telefon.«
»Wo?«, fragte Nero.
»In der Fürstenrieder Straße, Nähe U-Bahn Holzapfel Kreuth. Da gibt es ein Nachtcafé. Sterntaler. Die Straßen in München sind mittlerweile frei.«
»Das finde ich. In einer Stunde?«
Sigrun West hatte schon aufgelegt.
47.
Das Sterntaler war hell erleuchtet. Jemand schaufelte Schnee vor dem Eingang beiseite, als Nero durch die Tür schlüpfte und sich umsah. Das Café hätte in eine amerikanische Vorabendserie gepasst. Feste Sitzgruppen aus Kunststoffbänken reihten sich aneinander. Nero konnte Lokale dieser Art nicht ausstehen. Er fühlte sich als Europäer, als ein Individuum, das die Traditionen, philosophischen und historischen Entwicklungen von Jahrhunderten in sich trug. Dieses Plastikzeug stimmte ihn verdrießlich. Was Kea Laverde wohl dazu sagen würde … Bestimmt hing sie eher einer Darwinschen Interpretation an und behauptete, kulturelle Ausprägungen stellten schlicht und ergreifend einen Überlebensvorteil dar.
Wenigstens war es warm hier drin, und Nero ließ sich in der Raucherabteilung nieder. Nicht mehr lange, und er würde draußen rauchen müssen. Ab ersten Januar würde Bayern vom radikalsten Nichtrauchergesetz der Bundesrepublik beherrscht. Vielleicht könnte er dann leichter aufhören. Er blickte durch die breiten Fenster in den Schnee hinaus.
»Hallo.« Sigrun West rutschte auf die Bank gegenüber und schlüpfte aus ihrem Parka. »Ab 22 Uhr abends ist Selbstbedienung. Was möchten Sie?«
Nero erhob sich sofort. »Diesmal geht es auf mich.«
»Na gut. Was Süßes. Und einen Kaffee.«
Nero ging zur Theke und kam mit einem Mineralwasser für sich und einem dänischen Plunder und einer Tasse Kaffee für Sigrun zurück.
»Was liegt an?«, fragte sie.
»Neulich sagten Sie, es gäbe Hinweise, dass brutale Pornos in München gedreht würden.«
»Gibt es.«
»Welche sind das?«
Sie trank von ihrem Kaffee und zerriss den Plunder wie ein Wolf, der ein Schaf tötete. Nero fragte sich, ob sie an diesem Tag schon etwas gegessen hatte. Abschätzend betrachtete er ihre Hände. Sigrun hatte dünne Finger mit rissiger Nagelhaut. Ganz anders als Kea Laverdes schlanke, muskulöse Hände.
»Wir haben alle möglichen Szenen aus Pornos vom selben Anbieter zusammengeschnitten, die Aufschluss über den Produktionsort geben könnten. In bestimmten Filmen werden den Frauen die Kleider vom Leib geschnitten. Einmal fiel dabei ein Zettel zu Boden.« Sie stopfte sich den letzten Rest Plunder in den Mund und kramte eine Packung Taschentücher aus ihrer Jeans. Kauend fuhr sie fort: »In der Vergrößerung sahen wir den Schein eines Parkhauses in Thalkirchen. Parkzeit: 3. November 2007, 17.30 Uhr.«
»Aber …«
Sie hob die rechte Hand und griff mit der anderen nach der Kaffeetasse. Nachdem sie die Plunderreste heruntergespült hatte, sagte sie:
»Ein anderes Mal streifte sich eine Frau die Bluse über den Kopf. Da trudelte etwas Blaues zu Boden. Eine MVV-Streifenkarte. Glitt außer Sicht.«
Nero schwieg und starrte aus dem Fenster.
»Im Nürnberger Tierpark haben Eisbärinnen Junge geworfen. Jetzt geht die Knutsoße von vorne los«, murmelte Sigrun.
»Passiert so etwas öfter?«
»Die Tragzeit beim Ursus maritimus
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