Schweigfeinstill
aufgekommen, der die Wolken über den Himmel trieb. Nero stand ein paar Minuten einfach da und sah hinaus. Das ist es, was du gewollt hast, dachte er. Seltsam. War das wirklich seine Sehnsucht? Eine Wohnung in der Großstadt? Mit einem Mal hatte er den Eindruck, dass es ihm bei seinem Umzug um etwas ganz anderes gegangen war. Er konnte nun direkt vor seiner Haustür in die Straßenbahn steigen. Gegenüber bei Karo einen Cappuccino trinken oder sich bei Donuts & Candies ein Frühstück holen. Doch was ihn wirklich angezogen hatte, entglitt ihm immer mehr, je angestrengter er danach zu greifen trachtete. Die Betriebsamkeit, die ständige Möglichkeit, sich abzulenken, die Anonymität, die Unverbindlichkeit? Er seufzte und fuhr mit dem Finger über die blitzsauberen Scheiben. Tiziana musste sie geputzt haben, obwohl er es ihr untersagt hatte. Er stellte sich vor, wie sie einem heißen Levantewind gleich mit Glasreiniger und Fensterleder durch die Zimmer gewirbelt war. Ein warmes Gefühl purzelte durch Nero hindurch.
»Was willst du hier, Nero Keller«, murmelte er. »In einem gesichtslosen Haus an einer lauten Straße?« Lief er am Ende irgendwelchen Wünschen hinterher, die seinen tatsächlichen Bedürfnissen diametral entgegenstanden? Er musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte, je mehr er darüber nachdachte. Außerdem ärgerte er sich immer noch über Jassmunds Bemerkung, dass ihm Kea Laverde nicht gleichgültig war. Ja, er mochte sie. War ja nicht schlimm, oder? Aber zum Grübeln blieb wenig Zeit. Er hatte sich zum Essen mit Sigrun verabredet. Sie kannte ein kleines vietnamesisches Restaurant in der Nähe des Hauptbahnhofes. Nero machte sich nichts aus asiatischen Gerichten, aber er hatte Lust, Sigrun zu treffen. Nicht, weil er sie anziehend gefunden hätte. Sie war professionell, zupackend, sympathisch. Aber auch …
»… zynisch«, sagte er zu sich, stellte den letzten Karton ab und verließ rasch die Wohnung.
52.
»Ich habe alle Namen durchgecheckt, die Sie mir genannt haben«, erklärte Sigrun West gehetzt.
In ein paar Wochen sehe ich genauso getrieben aus wie sie, dachte Nero. Womöglich kamen die tiefen Augenringe und die scharf geschnittenen Falten zwischen Nase und Mund, die er gestern Nacht nicht bemerkt hatte, daher, dass ihr als Frau diese Geschichten noch mehr an die Nieren gingen.
»Der Tote wurde von Andy Steinfelder in der Garage der Familie Loring gefunden. Lorings wohnen zwei Querstraßen von der Villa der Steinfelders entfernt. Das Ehepaar war nicht zu Hause, als die Leiche aufgefunden wurde. Sie waren beide seit 8 Uhr an ihren Arbeitsplätzen, der gemeinsame Sohn in der Schule. Dort wurde er um halb zwölf vom Kindermädchen abgeholt.« Sie wedelte mit der Hand durch die Luft, um den Kellner auf sich aufmerksam zu machen. »Ganz sicher ist Lehr nicht in der Garage umgebracht worden. Man hat ihn dort abgeladen, als er schon tot war. Oder kurz davor.«
»Warum ausgerechnet in dieser Garage?«
»Keine Ahnung.«
»Und das Kindermädchen?«
»Sabine Gregs beginnt ihren Dienst immer erst, wenn der Sohn Schulschluss hat. Zuvor war sie zu Hause. Sie lebt mit ihrem alten Vater zusammen, um den sie sich kümmert. Weder Lorings noch Sabine Gregs kennen den Toten. Der Name Johannes Lehr sagt ihnen nichts.«
»Wer hat Lehr identifiziert?«
»Sein Bruder.«
»Wer ist Andy Steinfelders Anwalt?«
Sigrun grinste den Kellner breit an, der an ihren Tisch trat, und gab mit der Nachlässigkeit des Stammgastes ihre Bestellung auf.
»Das gleiche«, bat Nero, dem die Bezeichnungen auf der Speisekarte nichts sagten.
»Dr. Melcher. Ein Schulfreund Steinfelders. Andy Steinfelder ist raus. Der Richter sah keinen Grund, ihn länger festzuhalten.« Sie blickte Nero scharf an.
»Selbstverständlich bleibt alles unter uns«, bestätigte er eilig.
»Na gut.« Sie drehte ihr Mineralwasserglas in den Händen. »Folgendes: Ich persönlich bin an diesem Fall nicht dran. Woncka hat Sie ja längst eingeführt in die«, sie zögerte kurz, »Arbeitsteilung bei uns.«
Nero nickte. Wonckas sogenannte Einführung hatte darauf abgezielt, ihn zu verwirren. Nero kannte die Spielchen. Er sollte sich seine Lorbeeren verdienen.
»Es gibt drei Ermittler, die für die Untersuchungen im Mordfall Lehr abgestellt sind.« Ihre Stimme wurde hämisch. »Ich weiß nur, dass Lehr von Mister ein Angebot bekommen hat. Können Sie folgen?«
»Nein. Aber Sie haben einen guten Draht zu einem der drei Sonderermittler.«
Sigruns Gesicht
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