Schwere Wetter
verteidigen. »Bei Viveka steht an der Pinnwand,
dass sie mit Felix rumgeknutscht hat.«
Das Mädchen lief
rot an und wollte aufspringen, aber Margit hielt sie fest.
»Was hat das alles
zu bedeuten?«, fragte sie und sah in die Runde.
»Das sind die modernen
Zeiten«, erläuterte Lüder. »Die Kinder bewegen sich in Welten, die wir nur
streifen. Für die ist der Umgang mit sozialen Netzwerken und elektronischen
Medien selbstverständlich.«
»Facebook ist echt
geil«, warf Jonas ein und sah Thorolf hilfesuchend an. Der pflichtete ihm
sofort bei.
»Wenn ihr Alten
auf diesem Gebiet nicht mehr mitkommt, ist das doch eure Schuld.«
»Hast du eine
Vorstellung, wie gefährlich das ist, was ihr da macht?«, fragte Lüder und sah
in die Runde. Sein Blick blieb bei Viveka haften. »Was hat das mit diesem
Eintrag auf der Pinnwand auf sich?«
»Loretta ist echt
fies. Die ist scharf auf Felix. Und weil der nicht mit ihr gehen will, hat sie
diesen Text in meine Pinnwand eingetragen.«
»Der ist
gelogen?«, fragte Lüder.
Viveka nickte
heftig.
»Dann lösch ihn
doch.«
Thorolf räusperte
sich und half seiner Schwester. »Das geht nicht so einfach.«
»Wieso?«, fragte
Lüder. »Ich muss doch die Möglichkeit haben, Unwahrheiten wieder aus dem Netz
herauszubekommen.«
»Wenn du auf die
Taste gedrückt hast, ist das weg«, erklärte Jonas kurz und bündig. Dann
breitete er die Hände wie ein Wanderprediger aus. »So ist das eben. Manchmal
machen auch die anderen Scheiß.«
»Wenn du das
sagst, dann …«, drohte Thorolf.
Aber Jonas ließ
sich nicht beeindrucken. »Bingo hat –«
»Wer ist Bingo?«,
fuhr Lüder dazwischen.
»Na, Django aus
Thorolfs Klasse. Der ist doch letztes Jahr hängen geblieben. Seitdem tourt er
durch Thoris Klasse.«
»Was ist mit dem?«
»Jonas!«, rief
Thorolf dazwischen und ballte die Faust.
Aber der Jüngere ließ
sich nicht aufhalten. Er sah die Preisgabe des Geheimnisses als Rache dafür an,
dass Thorolf seine Texteingabe vorgelesen hatte.
»Ihr müsst mal auf
YouTube gucken. Da ist ein Video drin, wie Thorolf besoffen auf einem Tisch
steht und das Schleswig-Holstein-Lied brüllt. Total abgefuckt.«
Lüder atmete tief
durch. Für heute reichte es. War das, was er zu hören bekommen hatte, der Preis
dafür, dass er zu wenig Zeit fand, sich um seine Kinder zu kümmern? Oder ging
wirklich vieles an seiner Generation vorbei? Offenbar spielte sich im Netz
wesentlich mehr ab, als manche Eltern ahnten. Lüder erinnerte sich an
Zeitungsartikel über Schüler, die in der Anonymität des Netzes ihre Lehrer
verunglimpften und ihnen Übles nachsagten, über die Loverboys ,
die übers Internet minderjährigen Mädchen die große Liebe vorheuchelten und sie
zu einem persönlichen Treffen animierten, um sie dann für die Prostitution zu
gewinnen.
Und wenn schon die
Kinder so aktiv in diese Scheinwelt eingebunden waren, welche Möglichkeiten
eröffneten sich erst den Profis? Dann war es auch denkbar, dass man sogar vor
einem Mord nicht zurückschreckte. War Dustin McCormick ein Opfer der Cyberwelt?
ZWEI
Im Herbst setzte
sich das schlechte Wetter fort, das bereits den Sommer bestimmt hatte.
Die Bäume begannen
ungewöhnlich früh, ihre Blätter zu verlieren. Der schon seit Tagen anhaltende
Regen verwandelte in Verbindung mit dem Laub die Straßen in Rutschbahnen. Das
wirkte sich auch auf das Fahrverhalten der Autofahrer aus. Sie zeigten sich
nervös und aggressiv zugleich.
Lüder hatte sich
davon nicht anstecken lassen, obwohl er bei sich selbst eine Unkonzentriertheit
feststellte. Er wurde immer wieder dadurch abgelenkt, dass in seiner Familie
offenbar Dinge passierten, um die er sich bisher nicht gekümmert hatte und
deren Tragweite ihm am Vorabend erst in vollem Umfang bewusst geworden war.
Es beunruhigte
ihn, welchen Einfluss elektronische Medien und das Internet auf das Leben der
Kinder bereits genommen hatten. Ihn quälte eine Spur Schuldbewusstsein, weil er
sich nicht mehr um den Alltag der Kinder kümmern konnte und stattdessen zu viel
Zeit in den Beruf investierte. Es war auch kein Trost, dass er dieses Schicksal
mit Millionen anderen berufstätigen Müttern und Vätern teilte, ganz abgesehen
von denen, die als Alleinerziehende dieser Herausforderung ohne Unterstützung
einer so phantastischen Partnerin wie Margit gegenüberstanden.
Sie hatte recht,
wenn sie ihm ihr Leid klagte, sich beschwerte, dass er sich nicht um die
Reparatur des Dachs kümmerte, ihr Auto schon seit Tagen
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